Räuber-Clans – heute und damals

Manchmal sehen wir überall um uns herum Straßenräuber und Wegelagerer: Der Blitzer an der Autobahn, die Maut vorm Tunnel oder das Knöllchen an der Windschutzscheibe. Die echten zeigen sich uns selten tagsüber, aber wenn sie Juwelen stehlen oder eine Goldmünze aus einem Museum holen, dann sind sie unter uns. Im englischen Sprachraum gibt es für diese Zeitgenossen ein Wort: Thugs. Metaphorisch wird es inzwischen überall da benutzt, wo blankes Profitinteresse oder ein allmächtiger Staat beim Bürger oder Kunden scheinbar abkassieren.

(Trump) called the Black Capitol Police officer who shot Ashli Babbitt, who was trying to break into the House chamber, a “thug.”

New York Times, 13.5.2023

Aber der Begriff Thugs kommt – ausgerechnet – aus Indien! „Thug“ oder „Thugee“ steht im Sanskrit für Betrüger oder Räuber (oder beides zusammen). Nein, die Herren im Bild oben sind keine Kriminellen, sondern brave Männer aus Gujarat, die ich am Busbahnhof in Bhavnagar fotografiert habe.

In Palitana (Gujarat), Dez. 1984

Auch die Gruppe am Busbahnhof von Palitana (Foto links) wartet nur auf die Weiterfahrt, so – sagen wir – exotisch sie auch aussehen. Thugees hingegen waren mörderische Clans, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Straßen und Dörfer Zentralindiens beherrschten. Das war mehr als sieben Jahrzehnte bevor unser Indienbild von der Gewaltlosigkeit eines Gandhi geprägt wurde.

In Europa und den USA ist der Begriff von keinem Geringeren als Mark Twain bekannt geworden. Und das ist kein Zufall.

Thugs and poisoners. Um 1857 Foto: Wikipedia

Der Schriftsteller war 1895 auf einer Weltreise in Indien unterwegs. Berichte über Thugees scheinen den Amerikaner schon in seiner Kindheit fasziniert zu haben.

In seinem Buch von dieser Weltreise (‚Following the Equator‚)- einer Mischung aus Reisebeschreibung und Gesellschaftskommentar – schreibt er:

Vor 50 Jahren, als ich ein Junge im damals abgelegenen und dünn besiedelten Mississippi-Tal war, gab es vage Geschichten und Gerüchte über eine mysteriöse Gruppe professioneller Mörder aus einem Land, das gedacht so weit von uns entfernt war wie die blinkenden Sternbilder im Weltraum – Indien; Geschichten und Gerüchte über eine Sekte namens Thugs, die Reisenden an einsamen Orten auflauerte und sie tötete, um einen Gott zufriedenzustellen, den sie verehrten; Geschichten, die jeder gerne hörte und denen niemand glaubte, …“

In Indien fällt ihm der 1839 erschienenen Bericht eines britischen Majors in die Hände, den er über weite Passagen in seiner typischen Art zitiert und genüsslich kommentiert:

Die Thugs waren Verehrer von Bhowanee; und diesem Gott opferten sie jeden, der ihnen nützlich war; aber die Sachen des Verstorbenen behielten sie für sich selbst, denn der Gott kümmerte sich nur um den Leichnam. Männer wurden mit feierlichen Zeremonien in die Sekte eingeweiht. Dann wurde ihnen beigebracht, wie man eine Person mit dem heiligen Würgetuch erwürgt, doch durften sie erst nach langer Übung offiziell damit auftreten.“

Twain ist der Meister der drastischen Beschreibung, wie wir ihn schon aus „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ kennen. Aber er wäre nicht der kritische Beobachter, wenn er uns nicht einen Spiegel vorhält. „(Ein Thug) behauptet …, dass das Vergnügen, Menschen zu töten, (nichts anderes sei als) der Tierjagdinstinkt des weißen Mannes, der (eben nur) vergrößert, verfeinert und veredelt wurde. Es gibt viele Hinweise darauf, dass der Thug Männer oft aus reinem Spaß jagte; dass der Schrecken und der Schmerz des Opfers für ihn nicht mehr bedeuteten, als der Schrecken und der Schmerz des Kaninchens oder Hirsches für uns sind.“ (Übersetzung mit Google Translate, eigene Bearbeitung).

Der weiße Mann mit Jagdhund und Gaul (und dem Speer des Gottes Murugan) als Beschützer der Dörfer und Felder (gesehen 1993 in Tamil Nadu)

Der Tag, an dem dieses weitverbreitete Übel in Indien vollständig ausgerottet ist und nur noch dem Namen nach bekannt ist, wird die britische Herrschaft im Osten stark verewigen“ zitiert Mark Twain aus dem Bericht des Majors.
Bescheidener ließe sich der Anspruch auf dieses höchst edle Werk kaum formulieren, kommentiert er dazu sarkastisch.

Reisen durch Indien vor der Eisenbahnzeit war also lebensgefährlich. Mitten in Calcutta gibt es noch heute Fabrikationsstätten für Kleinfeuerwaffen, ein Relikt der Kolonialzeit, als „Mann“ sich glaubte bewaffnen zu müssen.

Nach einem Aufstand indischer Soldaten in britischem Dienst im Jahr 1857 übernahm London die Kontrolle über Indien. Königin Victoria wurde 1876 Kaiserin von Indien. Die Thugs waren besiegt. Die neuen Thugs trugen Khakianzüge und spielten Golf. Sie holten die Rohstoffe des Landes und waren auf ihre Art Wegelagerer. Sie klauten sogar Diamanten und bauten sie in ihre Königskronen ein.

Inevitable: India’s jewels taken by British Empire will be returned. THE GUARDIAN, 13.5.2023

Victoria Memorial, Calcutta

Im Sprachgebrauch von England und Amerika leben die thugs weiter. Heute scheinen sie sogar lebendiger denn je. Sie tragen Anzüge und fahren zur Wall Street.

Weitere Informationen:

zu „Thugee“ bei Wikipedia (Deutsch)

„Thugs of Hindostan real story: Who were the true thugs in Indian history?“ GQIndia, 8.11.2018

„What a thug’s life looked like in 19th Century India“ National Public Radio NPR.com, 18.11.2013