
Eine Bronzetafel am kleinen Friedhof mitten im Wald – oder was von dem übrig ist: „Hier ruhen 99 deutsche Soldaten, die im April 1945 bei den Kämpfen im Harz gefallen sind. Und 14 russische Soldaten, die als Kriegsgefangene bei Transporten ums Leben kamen.“ Die Inschrift verdeckt ein Kriegsverbrechen: „Soldaten“ waren größtenteils 16-Jährige und Kriegsgefangene kommen nicht einfach „bei Transporten ums Leben.“ Alles erinnert mich hier im Oberharz an einen anderen Ort, einen halben Erdumfang entfernt. Auch dort fand ich Gedenktafeln im Schatten eines Berges, von geschundenen Kriegsgefangenen und Gefallenen, gestorben zur gleichen Zeit, im gleichen Weltkrieg.


Der Grabstein eines unbekannten russischen Soldaten und der von Gerhard Reichel liegen nur ein paar Meter auseinander. Der Kriegsgefangene starb auf dem Transport, der 16-jährige Reichel wohl im Kugelhagel. Hier im Nirgendwo, Mitte April 1945 (und zusammen mit vielen Kameraden gleichen Alters), drei Wochen vor Kriegsende. Die meisten unter den „99 Soldaten“ waren also fast noch Kinder, das letzte Aufgebot eines mörderischen Regimes an einer Front in den Harzer Bergen mitten in Deutschland. Eine Erinnerungstafel unter einem Baum vermittelt den Hintergrund aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges.




Was muss den Jugendlichen wie Gerhard Reichel, Werner Hofmann, Heinz-Hermann Steiner, Werner Müller oder Wilfried Thormann, um nur einige der 16-Jährigen zu benennen, durch den Kopf gegangen sein? Waren sie wirklich bereit, fürs Vaterland zu sterben oder wurden sie dazu gezwungen? Wer hat sie aus dem Schulunterricht rekrutiert, oder vom Familienbetrieb in der Landwirtschaft, wissend, dass der Krieg verloren war? Wer ist für das Verbrechen verantwortlich, halbe Kinder in einen aussichtslosen Kampf zu senden? Was fühlten Eltern und Großeltern, wenn ihre Söhne und Enkel ins Gefecht ziehen mussten, blutjung, ohne Erfahrung mit Waffen und Krieg? Was wissen 16-Jährige vom Leben, von Krieg und faschistischer Ideologie?

Wir sind buchstäblich jahrzehntelang auf der Bundesstraße 4 bei Oderbrück an dem Hinweisschild zum Gräberfeld vorbei gefahren. Krieg war Vergangenheit und hier im Harz irgendwie kaum vorstellbar. Aber jetzt ist wieder Krieg in Europa.
Und so rütteln die Gräberfelder aus dem letzten großen Krieg unbarmherzig die Erinnerung wach. Dass auch der Wald im Harz stirbt, weil Käfer und Trockenheit ihn umbringen, macht die Trauer umso stärker. Graue, abgestorbene Fichtenstämme umrahmen den Friedhof und geben ihn im grellen Sonnenlicht dem Blick des Wanderers frei, der auf dem Weg zum Brocken ist.
An der Ummauerung saugt ein Schmetterling an einer Blüte und lässt sich auch durch das Klicken der Kamera nicht stören. Er wirkt wie ein Bote zwischen den Kriegstoten und uns, den Lebenden.
