Im Dämmerlicht der unzähligen Säulenhallen (mandapams) verlierst Du das Gefühl für Zeit und Raum. Die flackernden Öllämpchen verbreiten den Duft von Butterschmalz, die Gläubigen bewegen sich von Altar zu Altar, und zwischendurch erklingen Messingglocken. Deine Zeitreise zurück um zwei oder drei Jahrtausende hat begonnen.

Die Hallen werden von Säulen getragen, die als Fabelwesen gestaltet sind. Die Decken sind mit bunten Mustern bemalt, Du verlierst die Orientierung. Wo war noch gleich der Eingang, wo finde ich wieder heraus? Der Meenakshi Tempel im Zentrum von Madurai, der zweitgrößten Stadt von Tamil Nadu, hält Dich gleichsam in einer Zeitschleuse gefangen.

Der Tempel mit seinen vier gewaltigen gopurams (Tortürme, die mit unzähligen bunten Figuren aus der Hindu-Mythologie geschmückt sind) ist das Wahrzeichen, ja geradezu der Kristallisationspunkt der Stadt am Fluss Vagai. Der liegt die meiste Zeit des Jahres komplett trocken, weil sein Wasser am Oberlauf gestaut und für den Reisanbau verwendet wird. Der Meenakshi Tempel gehört zu den größten Indiens und ist der Archetyp der dravidischen Tempelarchitektur. Über mehr als drei Jahrzehnte bin ich ein dutzend Mal im Meenakshi Tempel gewesen.
(Die Fotos unten stammen von Mitte der 1980er Jahre, als ich über von Tauben-und Fledermaus-Kot bedeckte Stufen einen Gopuram bestiegen habe; heute ist das nicht mehr möglich).





Der Tempel ist Meditationsort, Treffpunkt und Jahrmarkt zugleich. Alles vermischt sich in Granit, Messing und bunten Malereien.

Ins Allerheiligste, zum Altar der Namensgöttin, dürfen nur Hindus vordringen. Für uns versteckt sie sich im Dunkeln hinter einem Messinggitter.
Meenakshi entsprang der Legende nach in Madurai dem Feuer als fischäugiges Mädchen mit drei Brüsten. Sie wurde als Junge und Mädchen zugleich erzogen (die fast 3000 Jahre alte Legende war unserer Zeit da etwas voraus). Kampfesstark wurde sie zur Herrscherin über einen Siva-Tempel, den es an den Ufern des Vaigai schon gab. Daher wollte sie es zuletzt mit dem Gott am Berg Kailash dortselbst aufnehmen. Als sie ihn sah, verschwand eine der drei Brüste – wie einst vorausgesagt: Wenn eine der Brüste verschwindet, hat sie den ihr bestimmten Gatten gefunden. So fand die Hochzeit zwischen Meenakshi und Siva in Madurai statt und der Tempel wurde ihr geweiht.
Nach einem Brand bauten die Nayak-Fürsten im 16. Jahrhundert den Tempel in der heutigen Form auf. Aber sein Ursprung liegt im Dunkeln der Geschichte, ganz sicher mehr als 2000 Jahre zurück. Noch heute wird die Hochzeit von Meenakshi und Siva mit einer Prozession der Gottheiten um den Tempel gefeiert, an der jährlich zehntausende Gläubige teilnehmen.


Der Besucher des Meenakshi Tempels sollte sich in diese Welt fallen lassen. Vielleicht segnet ihn irgendwo ein Elefant oder er begegnet einer Prozession von Pilgern, die der Göttin Opfer bringen – meist Blumen, Früchte und eine Kokosnuss.
In jedem Fall reibt er sich, zurück in der Gluthitze der engen Straßen um das Tempelgeviert, ungläubig die Augen: Bin ich wirklich zurück im Hier und Jetzt?