Platonisch: Wahrnehmung und Wahrheit

Im Bereiche der Erkenntnis ist die Idee des Guten nur zu allerletzt und mühsam wahrzunehmen. Hat man sie aber gesehen, muss man einsehen, dass sie … die Ursache jeder Regelmäßigkeit und Schönheit ist.

Platon Politeia

Es überrascht mich immer, wie stark unser Denken und die Leitgedanken unseres sozialen und politischen Handelns in die griechische Antike zurück reichen. Sokrates, Aristoteles und vor allem Platon haben aus dem 5. und 4. Jhd. v. Chr. philosophische und ethische Grundsätze von universeller Gültigkeit hinterlassen, die – über Christentum, Aufklärung und Humanismus weitergetragen und entwickelt – bis heute gelten.

In Zeiten von aufkommendem Faschismus, totalitären Systemen samt Vermischung von Fiktion und Fakten, und insgesamt einer anti-aufklärerischen Stimmung, hilft es, sich die antiken Gedanken vor Augen zu führen.

Das fällt leicht, wenn man in eine Höhle der Korykischen Grotten hinabsteigt. Fotos von einem Besuch dort, im Küstengebirge der Südtürkei, nahe Mersin, erinnerten mich an das Höhlengleichnis, welches Platon in seinem Werk Politeia („Der Staat“) beschreibt. Er tut das in Form eines Dialogs zwischen Sokrates (Platons Lehrmeister) und einem seiner Schüler.

Abstieg in die Korykische Grotte (Südtürkei)

Stellen wir uns vor, so erzählt es der Philosoph, wir sind gefangen und angebunden in einer Höhle, schon unser Leben lang. Alles was wir sehen und erkennen können sind Schatten an der Höhlenwand, welche das Licht des Feuers am Höhleneingang erzeugt. Dort bewegen sich Figuren und Gegenstände hin und her. Für uns wären die Schatten die einzige Wirklichkeit, etwas anderes können wir nicht wahrnehmen und erkennen. Wir verbringen unsere Zeit damit darüber nachzudenken, welche Schatten wann vorbeikommen. Das füllt uns aus und hohes Ansehen hat der, welcher am besten die Bewegungen an der Wand beschreiben und vorhersagen kann.

Was nun, so lässt Platon Sokrates in jenem Dialog mit seinem Schüler weiter fragen, wenn einer von uns ans Tageslicht gelangt. Dort sähe er im gleißenden Sonnenlicht die realen Phänomene, welche Ursache für die unterschiedlichen Schattenwürfe an der Höhlenwand sind. Käme er dann zurück zu seinen Mitgefangenen in die Höhle und würde von seinen Erkenntnissen berichten, würden sie ihn verlachen oder vielleicht sogar ermorden.

Platon schlägt im Höhlengleichnis zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Realität unserer Wahrnehmung muss nicht die absolute, letztendlich Realität sein. Sie mag sich sogar als Illusion herausstellen, die wir aber mit aller Macht verteidigen. Denn wer die nächste und höchste Stufe von Erkenntnis und Wissen erreicht hat, muss die anderen in Staat und Gesellschaft davon überzeugen, nicht einer Illusion nachzuhängen. Jeder ist damit verpflichtet, die aktuelle Realität in Frage zu stellen und nach höherem Wissen zu streben.

Auf dem Weg zum Grund der Höhle passieren wir die Ruine einer kleinen Kirche aus dem 5. Jhd. Unten verschwindet ein Fluss im Gebirge. Dort hinten im Dunklen wohnte der griechischen Mythologie nach das Ungeheuer Typhon. Mir läuft ein Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, dass wir an unsere eigenen Fake News glauben und aller Aufklärung und Suche nach prüfbaren Fakten abhold sind. Platon würde heute verzweifeln.