Aller Frieden ist relativ.

Von Derry waren wir im September 2016 unterwegs zurück nach Belfast. Wir machten Station in der Kleinstadt Omagh. Sie erlangte traurige Bekanntheit durch ein brutales Bombenattentat im August 1998. Eine gläserne Stele und eine Bronzetafel an der Hauswand daneben sind alles, was an das Unheil vom 15. August jenen Jahres erinnert.

Gedenkstele in Omagh

Bei dem Attentat einer Splittergruppe der IRA in der Einkaufsstraße der Kleinstadt kamen 31 Menschen ums Leben, darunter Frauen und Kinder. Hunderte wurden verletzt. In der Nähe fanden wir ein Schaufenster mit einer traurigen Symbolik: Ein kleiner Engel betet, Statuen der Madonna und des Herzens Jesu schauen zu.

Schaufenster in Omagh

Dies alles geschah wenige Monate nach dem Abkommen vom Karfreitag 1998. Es war eine mühsame unter US-Moderation erzeugte Vereinbarung zwischen London, Dublin und den Parteien in Belfast. Frieden schien greifbar, dann kam Omagh.

Fast 20 Jahre aber hat das Abkommen gehalten – und geliefert. Die Grenze zur Republik blieb offen, Handel im EU-Binnenmarkt florierte und Nordirland erreichte einen bescheidenen Wohlstand. Bescheiden deshalb, weil er nicht allen zugute kam. Die Benachteiligung der katholischen Bevölkerung, zu sehen an der Jugendarbeitslosigkeit in West-Derry und West-Belfast, schafft weiterhin starke Ressentiments.

Andy, ein ehemaliger IRA-Aktivist, der dafür auch zwei Jahre im Gefängnis war, führte uns damals entlang der Falls Road bis zum Stadtrand im Westen Belfasts. Ihm war es wichtig, dass die Geschichte des Bürgerkrieges und des andauernden politischen Kampfs unter dem Banner der Sinn Féin nicht der britischen Darstellung überlassen wird. Sinn Féin ist bei den Wahlen vor einigen Tagen zur stärksten Partei im Parlament von Belfast geworden – eine historische Zäsur. Die politische und juristische Aufarbeitung der troubles, wie man auf der Hauptinsel den Bürgerkrieg nennt, hat nicht einmal begonnen. Das Karfreitagsabkommen hatte die Gewalt beendet, aber Frieden ist mehr. „Lieber Brüssel als London“, meinte Andy damals.

Jetzt droht London, das Zusatz-Protokoll aus dem Brexit-Vertrag mit der EU zu kündigen, welches Nordirland einen Sonderstatus gibt, mit dem es im Binnenmarkt bleiben kann. Das jedenfalls fordert die DUP, die Partei der unionstreuen Protestanten und Verbündeter der Tories im Londoner Unterhaus. Für sie ist eine Zollkontrolle von Waren aus Britannien in Häfen Nordirlands nicht länger akzeptabel, eine Grenze in der Irischen See eigentlich ein Skandal. Downing Street ist dabei, eine Lunte ins Pulverfass zu legen und dabei auch noch der EU die Schuld zugeben. Aber im Umkehrschluss könnte gelten: London tut alles, damit sich Irland in wenigen Jahren wieder vereinigt.

In den 1970er Jahren hatte Nordirland einen festen Platz in der abendlichen Tagesschau. Wenn die Laientruppe in der Downing Street so weiter spielt, dann wird das bald wieder der Fall sein. Wir wissen aus vielen Beispielen inzwischen, dass sich Geschichte im Kreis dreht.

Ein Beitrag von Jonathan Freedland im THE GUARDIAN 14.5.2022

fast alles in den vergangenen Monaten Gesagte zusammen.

Meine früheren Blog-Beiträge zu Nordirland

West-Belfast. Eine politische Wanderung. Reiners.blog 14.1.2017

Nordirland in geteilter Loyalität. Reiners.blog 4.5.2017

Wo ist eigentlich die Grenze? Reiners.blog 8.3.2021