
Mitten in unserem Städtchen steht ein mächtiger Bau, halb Schloss, halb Hauptverwaltung einer Uni. Bibliotheca Augusta steht in goldenen Lettern über der Eingangsfront. Die Bibliothek umfasst einen ganzen Komplex von Gebäuden, in dem geforscht, archiviert und zunehmend digitalisiert wird.
Für Besucher zugänglich ist die zentrale Augusteer Halle. Wer sie betritt, der lässt die Gegenwart hinter sich. Sie verschwindet einfach. Zeit scheint in dieser Welt alter Bücher keine Kategorie zu sein. An den Wänden rundum türmen sich die Regale mit Folianten in hellgrauen Einbänden. Eine gedimmte Beleuchtung verstärkt die Aura der Wächter von Wissen und Forscherdrang. Es ist andächtig still in der Halle und nur das leise Summen einer Klimaanlage ist zu vernehmen.

Seit 450 Jahren sind Bücher, Handschriften, Dokumente und Landkarten von den Fürsten von Wolfenbüttel gesammelt worden. Heute bilden sie einen Schatz, für den diese eindrucksvolle Halle in der Herzog-August Bibliothek ein angemessener Ort ist.
Eine Treppe führt ins Untergeschoss mit weiteren Bänden, alten Karten aus der kolumbianischen Zeit und Globen – so ein von Gerhard Mercator angefertigter. Man spürt, wie der Mensch der frühen Neuzeit und der Aufklärung den Planeten neu entdecken will (und ihn schließlich erobert und ausbeutet).
Eine weitere unscheinbare Tür öffnet sich von der Halle in eine Tresorkammer, die dem Goldschatz von Fort Knox oder den Kronjuwelen im Tower zur Ehre gereichen würde: meterdicker Stahlbeton, atombombensicher. Der Schatz, der hier aufbewahrt und ab und zu präsentiert wird, hat es in sich: Vor vier Jahrzehnten war es das teuerste Buch der Welt, für die Bundesrepublik Deutschland für damals mehr als 30 Millionen DM ersteigert: das Evangeliar Heinrich des Löwen. Der unbotmäßige und ungestüme Herzog aus Braunschweig, Rivale des Kaisers, hat es 1188 anfertigen lassen – das Evangelium mit vielen Bildern. Und was für welche: Gold, Purpur und unglaubliche Details auf DIN A4 (wenn ich mir diesen saloppen Vergleich erlauben darf). Bei unserem Besuch und anlässlich des 450-jährigen Jubiläums der Bibliothek war eine Doppelseite hinter dem Panzerglas aufgeschlagen. Wir hatten Halle und Tresorraum fast für uns, der Vorteil von einem Werktagvormittag.


Wir verließen die Dämmerung der Augusteer Halle und traten zurück ins Sonnenlicht der Gegenwart. Einer Gegenwart von Boshaftigkeit, Dummheit, Idiotie; von Gewalt, Diffamie und Mobbing; von Verlogenheit, Anmaßung und Plattheiten.
Die Stille der Bibliothek ist das krasse Gegenteil: Die Bände in den Regalen stehen für Forschung, Aufklärung und Emanzipation – ein nie endender Prozess. Kein Platz für Arroganz und Dogmen, für Verfälschungen und Lügen. Man möchte den Büchern zurufen: Sprecht zu uns und es macht unsere Seele gesund.
Für zwei Euro Eintritt konnte ich meiner Seele eine Wellness-Stunde gönnen. Ich werde es wiederholen.

Internet-Informationen:
Webseite der Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel