Wendekreise überschreiten

Es gibt Wendehämmer, Wendemanöver und Wendehälse. Nichts aber übertrifft die Wendekreise. Zwei davon umrunden unseren Globus in etwa 23,5 Grad Nord und Süd. Im Englischen gibt es den Begriff nicht, man nennt sie Tropic. Der nördliche Kreis wurde vor 2000 Jahren bei der Sommersonnenwende nach dem vorherrschenden Sternzeichen benannt: Tropic of Cancer, der südliche ebenso nach einem Sternbild (Steinbock): Tropic of Capricorn. Bei der Zone dazwischen ist man sich in Deutsch und Englisch einig: Tropics = Tropen.

Was macht sie nun so besonders? Es sind die Linien, an denen der Zenitstand der Sonne seinen äußerst nördlichen (am 21. Juni) bzw. südlichen Stand (am 21. Dezember) erreicht. Er wandert sozusagen zwischen den Wendekreisen übers Jahr hin und her, Halbzeit macht er über dem Äquator (Richtung Norden am 21. März, Richtung Süden am 21. September – mit kleinen Variationen). In der Antike konnte man diese markante Linie bzw. das Datum durch Säulen oder einfach Stöcke und deren Schattenwurf bestimmen und hatte so einen Anhaltspunkt zur Navigation. Ihre historische Bedeutung erkennt man daran, dass man Schilder dort aufstellt, wo Straßen oder Wege die Wendekreise queren. In Oman überraschte mich vor ein paar Monaten ein solches Schild auf dem Weg von Sur in die Hauptstadt Muskat: Ich überquerte den Tropic of Cancer, den nördlichen Wendekreis.

Kurzer Ausflug in den Geographie-Unterricht 5./6. Klasse: warum auf rund 23,5 Grad? Um genau diesen Wert ist der Erdachse gegeüber der Ebene der Ekliptik geneigt – der Ebene auf der die Erde in rund 365 Tagen die Sonne umrundet. Diese Neigung erzeugt an den Polarkreisen in 66,5 Grad Nord und Süd ein zweites Phänomen: Jenseits davon bleibt es sechs Monate Tag (Polarsommer) oder sechs Monate Nacht (Polarwinter).

Zwischen den Wendekreisen erhält der Globus die intensivste Energie-Einstrahlung. Sie setzt wie ein Motor eine globale atmosphärische Zirkulation in Gang. Erdrotation aber auch Ozeane und Relief der Kontinente „deformieren“ diese Zirkulation von Luftmassen, aber das Muster lässt sich immer wiedererkennen: Innertropische Konvergenzzone, Passate, Monsune oder auch nur der berühmte „atlantische Tiefausläufer“ aus unseren Wetternachrichten. Der größte Störfaktor dieser globalen Zirkulation ist aber der zunehmende CO2-Gehalt der Atmosphäre.

Die Wendekreise sind eine nostalgische Erinnerung, auch wenn sie für die Definition der Tropen bleibend relevant sind. Heute hingegen definiert das Gitternetz von Längen- und Breitengrade unsere exakte Position auf dem Globus, ganz wörtlich: Unsere Handys senden diese GPS-Daten an Navigations-Software, mit der wir dann durch unbekannte Städte fahren oder Restaurants und Tankstellen finden. Ein Wunder der Technik: Ich fuhr im vergangenen August mit dem Auto in einer heißen Sommernacht so punktgenau durch die Vororte von Amman in Jordanien, als wäre es meine Heimatstadt. Manche sind ganz stolz auf ihre markante Lage in diesem Gitternetz, so zum Beispiel Mainz. Der 50. Breitgrad führt mitten durch den Dom und ist auf dem gegenüberliegenden Gutenbergplatz sogar im Pflaster markiert.

Der Zenitstand der Sonne an drei wichtigen Meridianen markiert unsere vier Jahreszeiten. Ohne die geneigte Erdachse und die wandernden Sonnenhöchststände zwischen den Wendekreisen hätten wir überhaupt keine. Denn die intensive Hitzewirkung des steilen Sonnenstandes zieht eine Folge von wandernden Luftdruck- und Hitzegürteln zwischen Nord und Süd mit sich. Die wiederum bestimmen saisonale Temperaturschwankungen und Niederschlagsmuster. Tropische Regenwälder und die Wüsten am Rand der Tropen sind sichtbares Zeichen jenes zwischen den Wendekreisen erzeugten Zirkulationsmusters.

Quelle: https://diercke.westermann.de/content/windsysteme-atmosph%C3%A4rische-zirkulation-schematisch-978-3-14-100800-5-249-2-1

Die Wendekreise sind also mehr als nur Linien auf der Erdkugel. Zwischen ihnen liegt der Antrieb des globalen Klimas. Wer sie Richtung Äquator überschreitet, betritt die „Hot Zone“, welche Wüsten schafft und tropische Wälder erhält. Es ist daher mehr als berechtigt, wenn Mexiko, Oman oder Indien den (nördlichen) Wendekreis mit Schildern markieren. Der Reisende kann ihrer Bedeutung dort Respekt zollen. Wendehälse verdienen den nicht.