Auf den Tag vor 110 Jahren stampfte ein Luxusschiff der untergehenden Sonne hinterher. An Bord der gesellschaftliche Querschnitt jener Zeit: Superreiche und Promis in Luxuskabinen, weiter unten im Schiff, arme Auswanderer in Mehrbettkabinen. Oben fürstliche Speisesäle mit Tanz und Live-Musik, unten Kantinen mit Holzbänken und stickiger Luft. Überall dazwischen das Personal, vom Kapitän in schmuckem Anzug, Matrosen im Ausguck und ölverschmierten Maschinisten im Maschinenraum.
Sie hielten Passagiere bei Laune und das Schiff auf Kurs: absolut unsinkbar, die beste Technik, die es damals gab, und mit Top-Geschwindigkeit dem Ziel entgegen. Im Titanic-Museum von Belfast (Foto oben) ist die Baugeschichte des Luxusdampfers dokumentiert.
Der kleine Ruck in jener eisigen Aprilnacht im Nordatlantik war kaum zu spüren und unterbrach die Abendgesellschaft oben überhaupt nicht. Aber unten sah es ganz anders aus. Und den wenigen Wissenden war klar, das riesige Schiff war nicht zu retten.
Wir alle kennen die Geschichte von jenem 12. April 1912 in- und auswendig, fast als wären wir dabei gewesen. Aber das Schicksal der Titanic ist eine erstaunlich gültig bleibende Metapher. Nur das jetzt der ganze Planet ein Schiff auf Kollisionskurs ist, im April 2022 mehr denn je. Explodierende Energiekosten, steigende Lebensmittelpreise, alles spürbar überall auf dem Planeten, politische Unruhen von Sri Lanka bis Pakistan. Der Eisberg ist schon erkennbar.
Wir dampfen zudem weiter in einen Krieg, dessen Brutalität unvorstellbar ist (und uns medial mit der Warnung präsentiert wird, dass uns die Bilder möglicherweise verstören würden). Die zunehmend höher dosierten Fotos vom Schlachtfeld (buchstäblich) sind wie der Schrei aus dem Ausguck: Katastrophe voraus!
Aber schon in kleinerer Skala, im Juli 2021, hörte in der Eifel niemand auf den Ausguck. Verantwortliche gingen ins Bett oder machten Urlaub, unten ertranken die Hilflosen.
Die Titanic und der Glaube „Wir schaffen alles!“ entsprach 1912 einem breiten Optimismus. So wie heute. Auch im Juli 1914, nur zwei Jahre später, machten die Regierenden Urlaub. Man hatte alles im Griff.
Die Besatzung aber sah das Unheil kommen: Europa traf Anfang August 1914 auf den Eisberg und stürzte sich euphorisch in den eigenen Untergang. 2022 ist nicht 1912, nur viel schlimmer.