Zeitreise: Gestern oder Morgen?

Unser Hotel hier am Atlantik südlich von Porto liegt in der Avenida 25 de Abril. Das Datum aus dem Jahr 1974 hat für die jüngere Geschichte Portugals große Bedeutung. In Coimbra gestern Mittag fanden wir das Datum als Graffiti an der Hauswand einer Studentenkommune.

Ich versetzte mich zurück in jenes Jahr 1974. Deutschland war im Sommer gerade Fußballweltmeister geworden. Ich hatte mir für August zwei Wochen Urlaub vom Bund genommen. Auf den Bahnfahrten zwischen Heimat und Kaserne war mir eine Broschüre in die Hand gefallen (unten deren Ausgabe von 1975).

Es war verlockend, kreuz und quer durch Europa zu fahren, sogar Ungarn und Rumänien waren an dem Projekt europäischer Eisenbahnen beteiligt. Ich wälzte Kursbücher und machte mich an einen Plan, in 14 Tagen eine Reihe von Metropolen und Länder zu sehen, auch Spanien und Portugal. Um überhaupt nach Portugal reisen zu können, musste ich als Wehrdienstleistender meinem Kompaniechef Bescheid sagen. Es war verpflichtend, sich gegen Cholera (!) impfen zu lassen! (Der Hauptmann war mehr als skeptisch, „aber wenigstens fahren Sie in ein Nato-Land“, meinte er).

So begann meine erste Begegnung mit Portugal als 19-Jähriger Interrailer an einem Augustmorgen 1974, als unser Nachtzug aus Madrid in Lissabon einlief. In einem alten Pass fand ich noch den Einreisestempel, der mir im Lusitania Express verpasst wurde, mitten in der Nacht.

Am Bahnhof Santa Apolonia war der Trubel groß: Internationale Züge aus Franco-Spanien wurden mit großem Hallo begrüßt. Man drückte uns Zettel in die Hand, wie der unten:

Auswanderer! Willkommen im freien Portugal. Die Direktion der Regionalorganisation Lissabon der Kommunistischen Partei Portugals begrüßt Euch Zurückkehrende im Portugal befreit von faschistischer Diktatur. Willkommen in Eurer befreiten Heimat!

Am 25. April war das Caetano-Regime durch linksgerichtete Armeeinheiten in der Nelkenrevolution gestürzt worden. Im Land herrschte auch im Sommer noch helle Aufregung darüber, wie die Zukunft des Landes aussehen sollte oder könnte.

Ich kann mich mit Hilfe alter Tagebuchnotizen an einige Details der Tage in Lissanbon erinnern. So nahm mich ein amerikanischer Mitreisender, den ich im Zug von Madrid kennen gelernt hatte, mit zum Bahnhof Cais do Sodre, von wo wir nach Estoril weiterfuhren. Er lud mich zum Mittagessen ein, aber mir wurde schnell klar, dass der noble Badeort nicht für mein Budget geeignet war. Zurück in Lissabon vermittelte mir die Touristinfo in Cais do Sodre eine Pension im Vorort Mem Martins, 20 Minuten Fahrtzeit vom Bahnhof Rossio im Nordwesten Lissabons. Interrail galt auch auf allen Vorortzügen. Von dort pendelte ich die kommenden Tage nach Lissabon hinein.

Fassade des Bahnhofs Rossio (Aufnahme Mai 2002)

Zum Fazit der wenigen Tage in und um Lissabon habe ich im Tagebuch vermerkt:

(Für meine Skepsis gegenüber Spanien bitte ich um Nachsicht: Die Franco-Diktatur ging erst im November 1975, mehr als ein Jahr später zu Ende und Spanien wurde Demokratie).

All dies ist fast 50 Jahre her, im Vergleich zu heute aber gab es einen Grundoptimismus: Der „Ölschock“ im Winter 1973 war überwunden, in den USA trat Richard Nixon am 8. August 1974 zurück und in Helsinki wurde die Akte über friedliche Zusammenarbeit in Europa verhandelt (sie trat ein Jahr später in Kraft). Noch bestand Europa aus Passstempeln, Peseten, Cruzeiros, Lira oder DMark.

Als wir gestern in herrlicher Sonne am Ufer des Mondego saßen und auf die Altstadt von Coimbra blickten, ging mir durch den Kopf, wie schnell sich Vergangenheit, eine positive Zukunftsperspektive (z.B. im befreiten Portugal) und reaktionäre Rückschritte abwechseln können. Sich 1974 vorzustellen, dass im Jahr 2022 Kriegsgreuel in Europa stattfinden wie 1622, war für mich damals jenseits meiner Phantasie. Gestern in Coimbra wünschte ich, es wäre wieder 1974.