Wenn Mehl fehlt

Wir backen kaum selbst und so ist Weizenmehl bei uns im Küchenschrank langlebig. Ab und zu braucht man aber doch ein wenig. Und so überraschte es uns, dass das Regal im lokalen Supermarkt leer war. Zwischen netter Werbung über den eigenen Radiosender der Kette kam der Hinweis an die „Liebe Kundinnen und Kunden“, dass man jederzeit alle Produkte vorrätig habe. Daran hätte ich nie gezweifelt.

Ich lebe in einer der intensivsten Agrarlandschaften Deutschlands: Die Braunschweig-Hildesheimer Lössbörde strotzt vor fruchtbaren Böden und bis zum Horizont reichenden Äckern. Und östlich von uns setzt sich dies in der Magdeburger Börde fort.

Zuckerrüben werden den ganzen Spätherbst in die Zuckerfabrik von Nordzucker in Schladen geliefert, die ihre Rauchschwaden weithin sichtbar aussendet. Im Sommer ziehen sogar nachts die Mähdrescher ihre Runden, um das Getreide trocken einzufahren. Weizenmehl kommt aus der Hedwigsburger Mühle, welche u.a. für den großen Kekshersteller in Hannover mahlt (ein echtes „Factory outlet“ mit Knabberzeugs aus jenem Weizenmehl haben wir im Nachbardorf). Auf riesigen Flächen an unserer Siedlung angrenzend werden hektarweise Salatköpfe angebaut, für „Aus unserer Region“-Supermarkt Labels. Bald beginnt die Erdbeer- und Spargelsaison in unserer Gegend. Kurz, eine Landschaft des Überflusses.

Was Menschen bewegt, Weizenmehl (oder auch Sonnenblumenöl oder Klopapier) in großen Mengen auf Vorrat zu kaufen, haben inzwischen Psychologen herausgefunden. In Krisenzeiten dokumentieren wir damit Handlungsautonomie. Wir wollen dem Kontrollverlust einer Krise jenseits unseres Einflusses (Krieg, Umwelt, Pandemie) durch sogenannte Hamsterkäufe begegnen (das putzige Tier macht uns vor, wie man Vorräte anlegen kann).

Je abstrakter unsere Gesellschaft funktioniert, umso stärker sind wir von den tatsächlichen Prioritäten in unserem Alltag entfernt oder entfremdet. Das letzte, was unserer durch Angebotsüberfluss, Lebensmittelvernichtung und uneingeschränkten Konsum geprägten Gesellschaft fehlt, ist Mangel. Wer aber schon eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn als Einschränkung von Freiheit empfindet, dessen wahre Leidensfähigkeit wurde noch nie getestet. Die Menschen in der Ukraine, im Jemen, Irak oder Myanmar schauen auf uns mit Verwunderung.