Man hätte es sehen können

In unserem Nachbarort fahre ich oft an einer stillgelegten Tankstelle vorbei. Der dort angezeigte Benzinpreis stammt noch aus DM-Zeiten und ist seit zwei Jahrzehnten „konstant“.

Wer hätte vor 2002 gewettet, dass 5,55 DM (2,78 €) zwanzig Jahre später tatsächlich ein realistischer Preis werden würde. Immerhin, eine heutige Regierungspartei hat damals schon vor einem Preis von 5 DM gewarnt – und wurde an den Wahlurnen abgestraft.

Kaum irgendwo fällt die ganze Malaise unseres Wirtschafts-, insbesondere unseres Energiesystems so stark ins Auge, wie an den Preisschildern der Tankstellen. Wir heizen zwar mit Gas, aber der Preis pro Kubikmeter versteckt sich in den Abrechnungen der Stadtwerke. Die Tankstelle aber erinnert uns täglich an den politischen Preis für Energie.

Nach dem Tanken jagen wir nicht nur CO2 in die Luft, wir finanzieren zugleich auch die autoritärsten Regime, welche einige Staaten auf dem Globus zu bieten haben. Der Krieg, den Russland begonnen hat, macht dies auf dramatische Weise sichtbar. Was wir nicht wussten: Wir sind sogar erpressbar! Das hatten wir zwar schon im Winter 1973 erlebt, aber was unsere Psyche auszeichnet ist, dass wir unangenehme Wahrheiten gern verdrängen. Das gilt für unsere Gesundheit, wie für den Klimawandel. Wissenschaft steht gegen kongnitive Dissonanz auf verlorenem Posten.

Auch die derzeitig Energiekrise, insbesondere für Deutschland, war vorhersehbar. Vom Ausland wurde zehn Jahre lang gewarnt, sich nicht von einem Lieferanten abhängig zu machen. Das Gegenargument: Wir sind aufeinander angewiesen; keiner wird es wagen, das zu riskieren. Jetzt ist es passiert. Mein Eingeständnis: Ich fand dieses Argument immer überzeugend, Handel verhindert Isolation, Austausch von Waren ist auch ein Austausch von Ideen. Angesichts der Verfestigung von autoritären Strukturen bei unseren großen Handelspartnern muss ich konstatieren: Skepsis ist angebracht, blauäugig sein macht das Leben leichter, bietet aber auch unliebsame Überraschungen.

An den Tankstellen und durch die Inflationsrate wird sichtbar, was uns Energieimporte wert sind. Wir finanzieren nicht nur einen Krieg, sondern auch gigantische Einnahmen anderswo. Die werden nicht für breite Bildungsinitiativen oder staatliche Gesundheitseinrichtungen verwendet, sondern fließen als Bestellungen für unsere Premiumklasse-Autos und Werftaufträge für Luxusjachten zurück. Und das ist noch der idealere Fall.

Ein geradezu atemberaubendes Beispiel für den Zusammenhang von Macht und Reichtum, Korruption und Krieg, Russland, Ukraine und London liefert eine Analyse des britischen THE GUARDIAN von heute (8.3.2022) – Kategorien von gut und böse oder Schwarzweiß-Denken passen da nicht mehr.