Mannsbild: zwischen Schreibtischtäter und Held

Der eine sitzt hinterm Schreibtisch, während seine „Mannen“ Zivilisten beschießen – mit infamen Waffen (aber vermutlich oft vom Computerbildschirm aus) – der andere meldet sich über Social Media, mit verwackelter Kamera, im khakifarbenen T-Shirt, schlecht rasiert aus irgendeinem Bunker. Auch sein Heldentum ist nicht ohne Inszenierung, aber man nimmt ihm seinen Kampfgeist ab, weil ihm erklärtermaßen der Tod droht.

Der Krieg hat seine eigenen Gesetze, erst recht in den Medien. Der Angreifer sitzt im Anzug am Telefon und regiert per Zoom-Bildschirm, zu seinem Volk spricht er übers Staatsmedium. Der Angegriffene regiert hinter Sandsäcken und lässt sich mit Apellen an sein Volk und an die Europäer in Sitzungssäle nach Brüssel schalten. Es sind dort wohl Tränen geflossen.

Um Missverständnissen vorzubeugen, wer hier der Schurke (der Begriff umschreibt nur unzureichend die Charaktereigenschaften) und wer das Opfer ist, muss ich nicht betonen: Ein ganzes Land wird angegriffen, ohne Anlass, einfach so und mit unsäglicher Gewalt gegen unschuldige Zivilisten. Der Widerstand ist heldenhaft, ebenso die Solidarität von Außen. Millionen sind auf der Flucht – oder werden es bald sein. Wie immer der Krieg endet, ein Land in Osteuropa wird zerstört und verblutet, das andere wirtschaftlich am Boden sein und ebenfalls seine Menschenopfer beweinen. Die weltweiten Folgen für die Verfügbarkeit von Rohstoffen (Energie und Nahrungsmittel) sind nicht abzusehen.

Zurück zu den Medien: Ein New York Times Kolumnist sieht in der vergangenen Woche einen Weckruf (ich vermeide hier das Wort „Erweckungserlebnis“) für die Welt, das Begleitfoto zeigt einen Mann und eine Frau bei der Herstellung von „Molotov-Cocktails“ (der Begriff stammt aus dem Krieg der Finnen gegen die Sowjetunion). Ein Kolumnist in der Washington Post (wie sein Kollege oben eigentlich von mir geschätzte Journalisten) sieht den Krieg als „von Charakteren geprägte Geschichte“ – man muss diese Reduktion erst einmal schlucken.

Mein Lieblingsradiosender rief heute morgen um viertel vor Zehn zu Europa weiter Solidarität auf – indem wir in über hundert Radiostationen geichzeitig George Harrison’s „Give Peace a Chance“ lauschten. Das hatte er 1969 geschrieben, aus Protest gegen den nicht enden wollenden Vietamkrieg. Und ein Kommentator im selben Sender erläuterte, er habe einst den Wehrdienst verweigert, aber gäbe es ihn heute, er würde es nicht wieder tun. Können Medien noch flacher werden?

Statt nüchtern zu analysieren, wann das Politikversagen begonnen* hat, welche Lehren daraus zu ziehen sind – für Verteidigungspolitik und für Rohstoff- bzw. Energiepolitik, wird Mitleid in Anspruch genommen. Das spüren wir zutiefst, ohne dass uns Radiomoderatoren davon überzeugen müssen. Zudem ist die Mobilisierung von Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge aus der Ukraine in die EU, besser noch: eine neue EU-Flüchtlingspolitik für alle Kriegsflüchtlinge, eine der positiven politischen Konsequenzen für Europa.

Meine persönlichen „Helden“ sind besonnene und zugleich konsequent handelnde Regierungschefs, die sich nicht zu schade sind, den Schurken ans Telefon zu holen (es gibt zudem eine neue Schalte zwischen Pentagon und Kreml, um versehentliche Auslöschung der Menschheit zu verhindern, ungemein beruhigend) und zu verhandeln. Vielleicht ist das Telefon neben dem Schreibtisch doch die beste aller Verteidigungswaffen.

P.S.: Ich hatte kurz heute Morgen einen Post aus meiner Serie „Ein Bild und seine Geschichte“ veröffentlicht. Ich habe ihn vorerst zurück gezogen und werde ihn zu einem späteren Zeitpunkt wieder hochladen.

Das Foto oben ist an einer Straßenbaustelle im Oman entstanden.

*Ergänzung 5.3.2022: ich fand in der Washington Post einen Beitrag von Henry Kissinger aus dem Jahr 2014, in dem er die Ukraine-Krise voraussieht und Lösungen vorschlägt.