Die Symbolik von Tischen

Da sitzt ein Mann bis zu halber Brusthöhe an seinem Schreibtisch, leicht zurück gelehnt. Rechts von ihm Telefon und Computerbildschirm, seine Hände liegen auf dem Tisch. Die hölzerne Wandverkleidung im Hintergrund vermittelt ein gediegenes Büro, in dem der Vertriebschef gerade die Strategie für die Umsatzsteigerung in einer Zoom-Konferenz erläutert.

Er ist aber Chef des flächenmäßig größten Landes auf dem Planeten, mit Atomstreitmacht und einer riesigen Armee in Angriffsposition, der hier eine gute Stunde lang sein ganz persönliches Verständnis von Geschichte und zukünftiger Rolle seines Landes erläutert, scheinbar nebenbei aus dem Büro. Sonst kein Feind von grandiosen Inszenierungen im barocken Ambiente seiner städtischen Residenz, wählt er hier ein casual business attire. Was er aber erzählt, lässt den Atem stocken. Es ist nichts anderes als eine, wie ein bekanntes Nachrichtenmagazin schreibt, Kriegserklärung an die europäische Staatenordnung.

Besuche von Staatschefs zuvor, die für eine diplomatischen Lösung werben wollten, hielt ein gewaltiger Tisch auf Abstand (spanische und italienische Möbelhersteller streiten sich, wer dieses weiß lackierte Ungetüm geliefert hat). Dialog an und über einen solchen Tisch ist Widerspruch in sich: Er braucht Nähe und Vertrauen. Wenn mein Besucher möglicherweise ein Virus mitbringt, ist es besser mit ihm am Telefon zu sprechen. Politik lebt von symbolträchtigen Bildern; die von zwei Männern, die am langen Tisch ihre Statements abliefern, ließen die Eiseskälte im politischen Kalkül schon Tage vorher erahnen.

Aber auch die internen Konferenzen legen bloß, was für eine Unternehmenskultur herrscht. „Sicherheitsberater“ sitzen in einer kreisrunden hohen Halle, einer Art Pantheon, und liefern nacheinander Statements. Keine Diskussion, kein Dissens, keine alternativen Szenarios – was man sicher auch nicht im nationalen Fernsehen zeigen würde. Sie sollen dem Publikum wohl Loyalität über die Distanz hinweg vermitteln.

Und dann der schmal lange Tisch: Vom Kopfende aus wird atomare Gefechtsbereitschaft angeordnet, am anderen Ende sitzen Militärs mit steinernen Gesichtern. Der Machthaber sitzt an übergroßen Tischen und dirigiert die Staatspolitik.

Immerhin, der Tisch bei Verhandlungen an der belarussischen Grenze ist schmal, die Teilnehmer sitzen sich face-to-face gegenüber. Vielleicht hilft ein Blick in die Augen des Gegenüber, ob gepokert wird oder ob die Angst vor dem Unheil durchscheint, welches sich beide zufügen können.

Das ist weit weg von unserer Tischkultur. Im Weißen Haus vermitteln zwei Sesseln vor einem Kamin mit einem kleinen Teetisch Vertrautheit und Intimität. Aber auch das mag zuweilen Inszenierung sein. Dagegen haben es runde Tische bei uns schon zu metaphorischer Bedeutung gebracht. Man diskutiert am „runden Tisch“ und will damit sagen, unter gleichwertigen und gleichberechtigten Teilnehmern. Das Ergebnis muss konsensfähig sein, keiner diktiert, es wird ausgehandelt.

Ein ganz besonderer runder Tisch steht weit weg, auf der Veranda eines kleinen Palastes im südindischen Kochi. Er steht dort seit Jahrzehnten immer an der gleichen Stelle, eine fast zwei Meter im Durchmesser große Marmorplatte auf einem Teakholz-Fuß. Was wäre es für ein Gewinn, dieses Kunstwerk jetzt, sagen wir in Warschau zu haben. Es böte Platz für mindestens zwei Präsidenten, die dort bei Tee und Gebäck Lösungen aushandeln, statt ein Gemetzel anzurichten und zwei Länder in den Untergang zu stürzen.

Kontinuität mit rundem Tisch: Er steht auf der Veranda des Bolghatty Palace in Kochi (Kerala/Indien). Links das Foto stammt vom Dezember 1984, oben vom März 2012. Fast 30 Jahre steht der Tisch wie ein Fels in der Brandung des Wandels, immer an der selben Stelle.