Im April 2006 war ich beruflich in Moskau. Für meine Zeitschrift suchte ich Kontakt mit russischen Geograph(inn)en, ein deutscher Gastprofessor an der Lomonossow-Universität half mir dabei. Er holte mich am Flughafen Domodedowo ab. Wir fuhren ein Stück über den äußersten Autobahnring an jenem nasskalten Apriltag und stürzten uns in den abendlichen Berufsverkehr Richtung Stadtzentrum. Die Skyline Moskaus war noch nicht die von heute, aber es zeigte sich schon an den Baukränen am Stadtrand und im Zentrum, dass hier ein Aufbruch stattfand (alle Fotos sind von 2006).
Eine Kollegin am Geographischen Institut bot uns eine Stadtexkursion zu Fuß an. Wir begannen südlich der Moskwa, überquerten den Fluss auf der Großen Moskwa Brücke Richtung Roter Platz, umrundeten den Kreml und besichtigten die Christ Erlöser Kathedrale. Nachmittags lud sie uns zu einem Kaffee und einem frühen Vodka ein. Wir diskutierten die Zukunft des Landes und die Verwendung der Rohstoffeinnahmen über einen Staatsfonds.



Der sich abzeichnende Wohlstand in Moskau war nicht nur an Neubauten, sondern auch an den Insignien des Kapitalismus sichtbar: SUVs und Luxusmarken auf den Straßen, Werbung für große Marken allüberall. Die Stadt brummte förmlich vor Aufbruch.
Abends besuchten wir eine Kneipe nahe der Kremlmauer. In nichts unterschied sich das Publikum und die tolle Atmosphäre von der in Berlin oder London.
Mir fiel aber auch auf, wie wichtig die Rückbesinnung auf das christlich-orthodoxe Erbe war, nicht nur am Beispiel der wieder aufgebauten Christ Erlöser Kathedrale. Überall blinkten die goldenen Kuppeln der Kirchen, im und außerhalb des Kreml, wie frisch poliert.



Am Roten Platz waren an den kalten Apriltagen nicht viele Menschen unterwegs, aber das Kaufhaus Gum hatte sich zu einer exklusiven Mall gewandelt. Sie unterschied sich in nichts von Dubai oder Hamburg.
Was damals für mich als Aufbruch und Nachholbedarf einer großen europäischen Metropole aussah, wirkt bei den Nachrichten heute wie eine kurze Episode in einem vermeintlich gekränkten Land. Jedenfalls sieht es der Kreml so. Groteske Inszenierungen staatlicher Macht in Marmorhallen und an übergroßen Tischen, dann wiederum Bilder aus einer verarmten Provinz der Ukraine, die man unter den Schutz des Mutterlandes stellen will. Flüchtende oder zur Flucht bewegte Menschen, Zurückgebliebene in Dörfern wie aus dem vorletzten Jahrhundert.
Vielleicht war Moskau damals einfach nur ein Potemkin’sches Dorf, übrigens auch eine Erfindung Russlands. Oder aber die Hauptstadt ist „meilenweit“ von der Realität in dem Riesenland entfernt und will diesen Vorsprung behalten. Ich bin kein Russlandkenner, aber mir ziemlich sicher, dass die noch kleine, aber wachsende Mittelschicht ihren gerade erlangten Wohlstand nicht für ein überkommenes Bild von Nation und Gesellschaft opfern will. Denn das wäre die Konsequenz aus einem Wirtschaftsboykott und einem verlustreichen, ganz und gar sinnlosen Krieg.
In diesem Sinn ist Mütterchen Russland wie eine von uns und Moskau (ebenso wie St. Petersburg oder Kiew) eine durch und durch europäische Metropole.
P.S.: Eine interessante Analyse zur Ideologie in Russland fand ich in der
South China Morning Post, Hongkong, 23.2.2022
James V. Wertsch: The grand narrative driving Putin’s vision of a strong and spiritually pure Russia