Ich habe ein ganz persönliches Verhältnis zu einer Universität, die es seit gut 200 Jahren gar nicht mehr gibt und die dennoch einst Europa weit berühmt war: die Universität Helmstedt.




Die Stadt ist eher als einstiger Grenzübergang in die DDR oder als Haltepunkt der Interzonenzüge von und nach Berlin bekannt. Fernzüge halten hier schon lange nicht mehr und auf der A2 fährt man achtlos an der Stadt vorbei. Das ist ein Fehler.


Helmstedt ist eine Fachwerkstadt aus der Spätrenaissance: ein imposantes Rathaus, aufwendige Fachwerkfassaden, davon eine aus dem Jahr 1514, als Luther noch Prediger in der Stadtkirche von Wittenberg war, vor allem aber der Gebäudekomplex der Universität Julia Carolina. Ein Gerüst verdeckte bei unserem Besuch gestern eine Hälfte des beeindruckenden Hauptbaus, des 1597 vollendeten Juleums. Das grüne Glas an den großen Fenstern kontrastiert mit rostbrauner Fassade, dazu Giebel und Tore mit Wappen und Figuren wie im Barock. Der ganze Gebäudekomplex strahlt den Stolz des Gründers aus, Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel. Die erste protestantische Universität in Norddeutschland zog berühmte Lehrer an, auch Giordano Bruno, der hier zwei Jahre wohnte.



Unrühmlich wurde die Juristische Fakultät im 17. Jahrhundert, die Gutachten zu Hexenprozessen anfertigte und dabei als „Hardliner“ galt (siehe Wikipedia-Eintrag). Die Medizinische Fakultät hingegen machte sich durch die Erforschung der Epilepsie bekannt. Zu den Größen der Fakultät gehörte auch der Arzt Paul Gottlieb Werlhof, der hier 1723 seine Doktorarbeit abschloss, bevor er später eine berühmte Arztpraxis in Hannover übernahm. Nach ihm wurde eine Krankheit benannt („Morbus Werlhof“, mit der ich vor einigen Jahren Bekanntschaft machte), die heute als Immunthrompozytopenie bekannt ist.
Aber auch eine weitere Berühmtheit promovierte in Helmstedt, wie ein Schild an der Hauswand gleich neben einem „Istanbul Imbiss“ dokumentiert: der Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Er machte sich später an der Universität Göttingen einen Namen, wie wohl Göttingen insgesamt das Erbe der Universität Helmstedt antrat. Denn 1810 wurde sie unter napoleonischer Besatzung geschlossen.
Während sie aus dem Stadtbild nicht weg zu denken ist – die Gebäude beherbergen heute die Volks- und eine Fachhochschule – so verbleicht die Erinnerung an akademische Erfolge. Es liegt an der Universität Göttingen und an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, die Universitätstradition in Helmstedt aufrecht zu erhalten: nach Wolfenbüttel wanderte die Unibibliothek und nach Göttingen der Botanische Garten.
Helmstedt verdient stärkere wirtschaftliche Impulse, die Lage an der einstigen Zonengrenze benachteiligt das Städtchen bis heute. Der nahegelegene Braunkohlentagebau und das Kraftwerk Buschhaus sind keine Zukunftsperspektiven – auch wenn ausgerechnet der Tagebau das südlicher im Landkreis gelegene Schöningen weltberühmt machte: hier wurden 300.000 Jahre alte Speere gefunden, die von Vorfahren des Homo sapiens als Jagdwaffen genutzt wurden.
Wer auf der Fahrt von und nach Berlin eine Pause an der A2 einlegen möchte, dem sei Helmstedt empfohlen. Es ist eine Zeitreise in die Widersprüche des 17. und 18. Jahrhunderts: Fortschritt in der Wissenschaft und Rückschritt in Politik und Gesellschaft.