Leben auf Station 54

Nein, nicht in der Antarktis, sondern in einem Heilinstitut im Umland bin ich gelandet. Es gehört zu einer ganzen Gruppe solcher Einrichtungen, die sich den Arztgott Asklepios zum Namensvorbild genommen hat – den mit dem Stock und der Schlange.

Ich hatte einen Aufenthalt von zwei Tagen gebucht, um mich auf den Kopf stellen zu lassen (nicht wörtlich). Daraus ist ein längerer Aufenthalt geworden, weil gründliche Untersuchungen aller Art nun mal ihre Zeit brauchen. Gut Ding will Weil haben! Und so muss ich mich nolens volens auf den Alltag meiner Station, die mein Geburtsjahr im Namen hat, einlassen. Zudem: viel Zeit zum Bloggen.

Mahlzeiten, Messungen, Visiten kommen und gehen in exakt bemessenem Rhythmus, ein eingespielter Ablauf. Er beginnt mit einem kräftigen Kaffee morgens (und einer oder zwei Brotschnitten) und endet mit dem obligatorischen Früchtetee (mit einer oder zwei Brotschnitten) am Abend. Die Mittagsmahlzeiten kommen für meinen außerklinischen Alltag zu Unzeiten, sei’s drum. Ich bin nicht wählerisch.

Nach drei Tagen und einem Wochenende habe ich den Wiederstand gegen diesen Alltag aufgegeben und mich darauf eingelassen. Gab es je ein anderes Leben?

Meine Frau bringt Blumen und Süßigkeiten vorbei, bevor Omikron ein Besuchsverbot erzwingt, es fällt Schnee auf den Berghängen vorm Fenster.

Pflegerinnen und Pfleger versuchen mit der Logistik des Klinikalltags zurecht und trotzdem dem Bedürfnis von uns Patienten entgegen zu kommen. Nie habe ich die Arbeit in einer solchen Einrichtung höher geschätzt, als in diesen Zeiten. Manche sind sachlich und kurz angebunden, die Effizienz erzwingt das. Andere suchen den Smalltalk trotz der vielen Aufgaben.

Und sie kommen aus aller Welt: aus der nahen Umgebung oder aus Homs oder Kayseri. Heute morgen macht ein drahtiger junger Mann mit frischer Frisur die Tür auf: „Guten Morgen, ich bin Abdul, Ihr Pfleger!“ schmettert er ins Zimmer und belebt damit allein schon die Lebensgeister. Er ist 2015 nach Deutschland gekommen. Von solchen Energie und Kompetenz Sprühenden könnten wir noch eine Million gebrauchen.

Die Ärzte der Station sind aus aller Welt zu Gast, aus der Ukraine, aus Malaysia (Selamat datang!) und aus Tunesien. Der Oberarzt verspricht in ruhigem, überzeugendem Ton dem ungeduldigen Patienten, dass gründlich untersucht und diagnostiziert wird, samt Therapievorschlag. Mir wäre lieb alles in einem Ordner mit Glossar und Checklist. Es sei kein Gefängnis, ich könne jederzeit gehen. Aber er rate dazu, das alles umfassend zu betrachten. Er scheint unsere Mentalität von Gründlichkeit und Perfektion vollständig verinnerlicht zu haben.

Ich scherze gegenüber meinem Bettnachbarn, vielleicht Ostern Zuhause zu sein. So müssen sich die Menschen in Quarantäne gefühlt haben, oder solche, die auf Inseln gestrandet sind. Inzwischen habe ich mich in die wohlwollenden Hände aus aller Welt ergeben und ich weiß jetzt schon: In ein paar Tagen werde ich Station 54 vermissen.