Das Jahr 2022: New York ist eine übervölkerte Stadt mit Slums und Armut. Die meisten der 50 Millionen Einwohner sind froh, wenn sie etwas zu essen haben. Die Straßen der Stadt sind in schwefelgelbes Licht getaucht, die Sonne dringt kaum durch den Smog hindurch.
Auf diesem dystopischen Hintergrund spielt der Film Jahr 2022 … die überleben wollen, zu dem mich ein Freund aus meiner Bundeswehreinheit im Sommer 1974 ins Kino des Garnisonsstandortes eingeladen hatte.
Die beiden Protagonisten des Films, Solomon Roth und der Polizist Robert Thorn (gespielt von Charlton Heston), leben zusammen in einem runter gekommenen Apartment. Bei Ermittlungen in einem Mordfall kommen sie dem ungeheuerlichen Geheimnis eines von der Hungersnot profitierenden Lebensmittelkonzerns auf die Spur. Der bietet zudem freiwillige Einschläferungen an, bei der die Kunden vor ihrem Tod noch einmal einen Film sehen können, wie schön die Welt einst war. Zynismus und kapitalistisches Denken in Reinform.
Solomon, dessen Geburtsjahrgang im Film dem meinen entspricht, entscheidet sich dafür sein Leben auf diese Weise zu beenden. Der Zuschauer sieht, wie er in einem Panoramakino vom Sterbebett aus zu Beethoven’s 6. Symphonie (die „Pastorale“) betörend schöne Szenen einer Welt aus Blumenwiesen. Rehkitzen und blauem Himmel betrachtet, bevor er entschläft. Er hat seinem Freund Thorn nicht erzählt, was er entdeckt hat und dass er aus dem Leben scheiden will.
Die Szene wie der ganze Film haben mich als damals 19-Jährigen ziemlich beeindruckt. In einigen Tagen beginnt jenes Jahr 2022 und man kommt nicht umhin, in dystopischen Kategorien zu denken. War der Jahreswechsel 2021 noch von Optimismus und dem Sieg der medizinischen Wissenschaft über die Corona-Pandemie geprägt, so stehen wir derzeit gelinde gesagt ziemlich ernüchtert vor dem neuen Jahr. Wieder können wir Silvester nur in unseren vier Wänden verbringen und wieder und wieder überfallen uns dort sämtliche Nachrichtenkanäle mit News zu Omikron. Begegnen sich hier Fiction und Science?
Für Verschwörungsanhänger ist die mediale Panik nichts anderes als die Vorbereitung zu einer allgemeinen Impfpflicht, angestachelt durch einen medizinisch-pharmazeutischen Komplex. Jeder Vierte bei uns misstraut einer Impfung gegen das Virus und bezweifelt, dass es sich dabei um wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt handelt. In jenem Film hingegen stürzen sich die Hungernden auf die ernährungstechnische Neuentwicklung des Konzerns, die der als Soylent Green anpreist (so auch der Originaltitel des Films).
Wir haben uns angewöhnt, ja es geradezu zum aufklärerischen Prinzip gemacht, Institutionen, Ideologie und selbst Wissenschaft mit Skepsis und kritischem Blick zu betrachten. So war unser Bildungssystem angelegt, das von Immanuel Kant bis zu Wilhelm von Humboldt beeinflusst ist. Dennoch überrascht mich die Heftigkeit, mit der am Beispiel der Corona-Impfungen quer zum etablierten wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs gedacht (und auf den Straßen demonstriert) wird.
Ingmar Hoerr, der als Doktorrand im südindischen Madurai eher zufällig das Botenmolekül Messenger-RNA und dessen „Potential als therapeutischer Impf- und Wirkstoff“ (Webseite von Curevac) entdeckte, und auch die beiden BioNTech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci wirken nicht wie Geheimagenten einer verschwörerischen Großindustrie. Eher umgekehrt: Ihre Forschungsergebnisse schienen schon lange vor Sars-2 so vielversprechend, dass sich private und öffentliche Geldgeber an den Firmengründungen beteiligten, trotz der wirtschaftlichen Risiken solcher Investitionen. Nicht umsonst streckte die Trump-Regierung – nicht bekannt für transparente und faktenbasierte Kommunikation – schon im März 2020 insgeheim die Hand nach Curevac aus, machte dann aber die US-Firma Moderna zum Partner der Impfentwicklung. Moderna hatte ebenfalls schon lange vorher das mRNA-Potential erkannt.
Nun gestehe ich zu, dass derartige Informationen die Skepsis von Impfgegnern nicht beheben können. Wahrscheinlich geht sie weit über die Frage des Vertrauens in medizinische Forschung hinaus und betrifft insgesamt das offensichtlich zerüttete Verhältnis zwischen politischen und wissenschaftlichen Eliten, Teilen der Gesellschaft und vielen Einzelnen.
Das sah noch Ende der 1960er Jahre ganz anders aus. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg und den „Muff aus tausend Jahren…“ hatten einen alternativen Gesellschaftsentwurf erzeugt, eine Utopie. Das Woodstock-Festival und die erste Mondlandung im Juli 1969 waren vielleicht zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Eine Tante schenkte mir damals das Buch „Interview mit der Zukunft. Unsere Welt in 20 Jahren“ vom Autor Georg Breuer (1968 erschienen). Viele der technologischen und gesellschaftlichen Szenarien sind erst heute, 53 Jahre später, auf dem Weg in die Realität (Computerisierung, digitales Lernen, autonomes Fahren), viele haben sich als unerwünscht und umweltfeindlich erledigt (Soziale Medien als gesellschaftliche Kohärenz unterlaufende Technologie hat übrigens damals niemand prognostiziert). Aber es überwog ein Grundoptimismus, dass politische Reformen und technologische Forschung die Annäherung an eine solche Utopie möglich machten.
Nur wenige Jahre später, 1972, folgte mit dem Bericht des Club of Rome Grenzen des Wachstums eine radikale Ernüchterung. Sie betraf auch das Vertrauen in die Lösungsfähigkeit der Technologie, von Überschallflugzeugen bis zur Atomkraft. Kein Zufall, dass ein Jahr später der Film Jahr 2022 … die überleben wollen in die US- und 1974 in die deutschen Kinos kam.
Solomon Roth und Robert Thorn enthüllen im Film nicht nur ein bizarres Geheimnis. (Nein, nicht die kürzliche Untersuchung, dass Thunfisch-Sandwiches einer Fastfood-Kette alles andere enthalten, nur kein Thunfisch). Sie decken auch die verschwörerischen Machenschaften eines Konzerns auf, der dazu noch auf politische Rückendeckung zählen kann. All dies wirkt wie eine Vorwegnahme des realen Jahres 2022.
Aber es ist ja gerade Aufgabe solcher dystopischen Szenarien, die Kritikfähigkeit und einen gesellschaftlichen Diskurs zu stärken, bevor sie Wirklichkeit werden.
„We’re living Through the ‚Boring Apocalypse'“. The New York Times online, 29. Dez. 2021
„… Jahr 2022 … die überleben wollen“ bei Wikipedia
„The year 2022: another year of living dangerously“ The Guardian online, 29. Dez. 2021