Der Schimmelreiter-Komplex

Manchmal denke ich, unsere ganze Gesellschaft ist wie ein Dorf hinterm Deich: Es duckt sich vor Wind und Flut hinter einem Schutzwall, der einst gebaut wurde, aber kaum noch als solcher wahrgenommen wird.

Im Dorf twittert man sich Gerüchte zu, erzählt sich von gespensterhaften Erscheinungen, gibt Aberglauben zum Besten und ist misstrauisch allem Neuen, besonders allem Rationalen gegenüber. Mit dieser Gesellschaft fühlte sich Hauke Haien in Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ konfrontiert. Er hat sich im Eigenstudium gebildet, im „Rechnen“ und der Kunst des Deichbaus. Zielstrebig wird er Deichgraf, nachdem der Vorgänger verstarb. Seine Durchsetzungskraft besteht in einer großen Portion Selbstbewusstsein, ja gar Arroganz gegenüber den Dörflern hinterm (alten) Deich, einer ungeheuren Tatkraft und fast zornige Ungeduld den Zögernden gegenüber. In seiner Frau Elke, der Tochter seines Vorgängers im Amt, und dem kleinen Töchterchen Wienke findet er Rückhalt und Lebenssinn.

Dass er auf einem Schimmel wie besessen den Deich abreitet und die von ihm geplante Erweiterung zu einem neuen Koog plant und überwacht, macht ihn und sein Pferd erst recht „des Teufels“. Unbequem und dauernd Teamarbeit fordernd hat Hauke keine Freunde im Dorf. Er nimmt das hin. Widersacher gibt es im Dorf hingegen genug, an erster Stelle Ole Pedersen, sein früherer Rivale um die Gunst des alten Deichgrafs. Er und die meisten Dörfler unterstellen ihm Gottlosigkeit. Sie vermuten hinter dem Wahn beim Bau eines neuen, verbesserten Deichs Eigeninteressen und Profilisierungssucht des Deichgrafen.

Was Storm damals, 1888, in seiner nordfriesischen Heimatstadt Husum schrieb, klingt in diesen Zeiten irgendwie bekannt. Verschwörungen überall, mediale Beeinflussung durch böse Kräfte, die uns Impfschutz aufzwingen wollen. Enorme Anstrengungen und Verzicht sollen wir zudem leisten, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Aber was haben wir davon? Man sieht den Schimmelreiter förmlich am Horizont.

Gern würden wir einen kleinen Hund lebendig im Deich begraben (das wir zum Beispiel Opfer von Bill Gates werden oder dem Corona-Faschismus vorbeugen müssen), aber der Schimmelreiter verwehrt uns auch diesen Rest von Aberglauben. Und seine ewige Mahnung, den Gefahren der Natur vorzubeugen, die wir selbst herauf beschwören, werten wir als Selbstzweck, der zu unseren Lasten geht.

Mein erster Besuch in Husum war bei nasskaltem Wetter. Regen wehte über den Platz am alten Hafen und ich fand Schutz in den kleinen, engen Gassen der Altstadt. Genau hier steht das Wohnhaus Theodor Storms. Später, im Frühsommer 2020, mit blauem Himmel, sah Husum schon anders aus.

Die Schilderung der jahreszeitlichen Gegensätze, der Sommer mit üppig grünen Wiesen und Herbst/Winter mit dunklen Nächten sowie Sturm und Eis, spielen in Storms Erzählung ebenso eine Rolle, wie die Beschreibung der Wattenlandschaft vor den Deichen. Man hört beim Lesen förmlich die Möwen kreischen und kann sich hinein versetzen, wenn in der Dämmerung geisterhafte Erscheinungen auf Sandbänken und Halligen auftauchen.

„Der Schimmelreiter“ gehörte zur Lektüre unseres Deutschunterrichts in der Untertertia. Mit knapp 14 Jahren hatte die Novelle auf mich großen Eindruck gemacht, weil mir der Gegensatz zwischen aufgeklärtem Bildungswesen am Gymansium und meinem Alltag im Dorf eingezwängt zwischen Bergen und Wäldern so vorkam, wie im Schimmelreiter (es war ja erst 1967!). Auch bei uns gab es einen Ole Pedersen und eine alte Trine Jans, es gab Interessengegensätze von Groß- und kleineren Bauern. Nur war ich kein Hauke Haien.

Das Ende des Schimmelreiters ist tragisch: Bei einer Jahrhundert-Sturmflut im Spätherbst bricht der Deich genau an der Stelle, an der der neue auf den alten trifft. Hauke hatte schon im Sommer erkannt, dass der alte Deich von Mäusen unterhöhlt und brüchig war. Aber einen Kompromiss mit Ole Pedersen suchend ließ er dort nur notdürftig reparieren. Der Deichgraf macht sich jetzt im tosenden Sturm diese Fehlentscheidung zu eigen, er habe in seinem Amte versagt, sagt er zu sich. Seine kleine Familie kommt vor seinen Augen in den Fluten ums Leben, sein Lebensinhalt ist vollends zerstört. Samt seinem Schimmel stürzt er sich daraufhin ebenfalls in den Tod.

Seitdem gilt an der friesischen Küste der nächtliche Schimmelreiter als Kunde des Unheils. Ausgerechnet Hauke Haien, der Rationalist, wird selbst zum Gespenst.

Bei Wanderungen auf dem Deich bei St. Peter-Ording im Juni 2020 kam mir immer wieder Storms Novelle in den Sinn. Unter blauem Himmel und frischem Wind waren Fahrradfahrer, Kite Surfer und Strandurlauber unterwegs. Keine Spur von Bedrohung durch die Elemente, zumal der erste Lockdown gerade vorbei war und das Virus rückblickend wie ein böser Spuk erschien.

Weit gefehlt, der Spuk kam zurück, schlimmer als zuvor. Und die unheilvollen Regenwolken über der Eifel waren noch nicht einmal in der Phantasie zu erkennen. Eines warnenden Schimmelreiters hätte es bedurft, besser noch Vertrauen in wissenschaftlich überprüfbare Fakten.

Die Ferien- und Freizeitidylle in Nordfriesland wird sich an der Frontlinie der globalen Erwärmung wiederfinden. Dann braucht es wieder einen Hauke Haien, einen weitsichtigen Deichgraf. Nicht nur dort, sondern für unsere ganze Gesellschaft.