
Neben all den bekannten historischen Fakten und Forschungsergebnissen bleibt immer noch die Fassungslosigkeit, dass Deutsche mitten in Deutschland die Gotteshäuser ihrer Mitbürger in einem kollektiven Fanal von Emden bis Konstanz anzündeten, zerstörten und einige hundert der Mitbürger umbrachten. Noch gab es an jenem 9. November 1938 äußeren Frieden, das Münchener Abkommen war gerade unterzeichnet.
Aber das Pogrom vor 83 Jahren war so öffentlich und sichtbar wie nur irgendwie: Es betraf Großstädte und kleine Gemeinden, jüdische Synagogen in Stadt und Land. Wer da noch weg sah, verfügte über ein gehöriges Maß an Verdrängung. Oder war es doch eine verbrämte gesellschaftliche Akzeptanz, nachdem das Naziregime schon fünf Jahre an der Macht war und die Propaganda und Terror gewirkt hatten?
An einen solchen Tag immer wieder zu erinnern ist mehr als ein bloßer Gedenktag mit den ihm angemessenen Ansprachen. Brennende Gotteshäuser in unserer Mitte sind und waren ein Vorbote des noch viel Unheilvolleren, wie es schon Jahre zuvor brennende Bücher oder in „Schutzhaft“ genommene Gegnern des Regimes waren.
Vor Ort in Seesen, fast schon ein beliebiges Beispiel: eine Kleinstadt am Harzrand, mit solider Industrie und eingebettet in landwirtschaftlich genutztes Umland. Und doch sticht Seesen hervor, hatte doch hier der jüdische Reformer Israel Jacobson den Versuch gewagt, eine jüdische Schule mit aufklärerischem Konzept zu etablieren. Das war 1801. Ab 1805 konnten auch christliche Kinder die Schule besuchen, auf dem Schulhof ließ Jacobsen 1810 eine Synagoge errichten, den Jacobstempel, mit einer Orgel und Gottesdiensten auch in deutscher Sprache. Das war damals einzigartig. In der Novembernacht 128 Jahre später wurde der Jacobstempel zerstört. Was blieb ist seine Schule und deren Geist, heute übergegangen in das Jacobson-Gymnasium in Seesen.
Dessen Schüler fühlen sich dem Andenken des Namensgebers verpflichtet, steht er doch für Aufklärung und Toleranz. Am vergangenen Sonntag (7.11.21) hatten Schülerinnen und Schüler einer Geschichtsklasse sowie das Städtische Museum Seesen unter seinem Leiter Dr. Dirk Stroschein zu einer Wanderung durch Seesen eingeladen.

Wir trafen uns auf dem Jacobsonplatz, dort wo einst der Jacobstempel gestanden hatte. Ziel unseres Spazierganges war es, dem Gedenkstein zu „folgen“, der sich von hier im Lauf der Jahre auf das Gelände des Schulneubaus am Rand der Stadt „bewegt“ hatte.
Die Schülerinnen und Schüler erläuterten die Geschichte des Gedenksteines und die Veränderung seines Standortes und zeigten uns dazu historische Fotos.
An der letzten Station der Wanderung, auf ihrem Schulgelände, steht der Gedenkstein jetzt und mahnt die Mädchen und Jungen an das Erbe Jacobsons und das Fanal vor 128 Jahren.

2021 ist das 75. Jubiläumsjahr des Landes Niedersachsen und das 1700. Jahr jüdischen Lebens in Deutschland. An einem kleinen, fast versteckten Beispiel hat die Geschichtsklasse zusammen mit ihren Lehrerinnen aufgearbeitet, welche Rolle eine Erinnerungskultur in unserem demokratischen Gemeinwesen einnehmen kann.
Informationen:
Novemberpogrome 1938 in Niedersachsen. Webseite der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten