Der Mensch ist ein Vernunft begabtes Wesen. In seiner Brutalität ist er dennoch unendlich erfindungsreicher als die oft zitierte „rächende“ Natur. Sei es in Nanjing, Auschwitz oder Sebrenica, in Kigali oder Aleppo. Was in den Augusttagen des Jahres 1945 an zwei Städten in Japan exerziert wurde, war eine menschengemachte Apokalypse und zugleich der Beginn einer Ära, in der die Selbstvernichtung der Menschheit eine reale Möglichkeit ist. Seitdem leben wir leben mit ihr.

Davon ahnten die Menschen am jenem 9. August 1945 in Nagasaki noch nichts. Drei Tage zuvor war über der weiter östlich gelegenen Stadt Hiroshima ein Inferno von der Besatzung eines einzigen Flugzeuges ausgelöst worden. Zehntausende verloren in Sekundenbruchteilen das Leben. Der Zweite Weltkrieg war in Ostasien noch nicht zu Ende. Regierung und Militärs in Tokio debatierten, ob man kapitulieren sollte. Man überhörte die Warnungen aus Washington, dass es eine zweite noch teuflischere Waffe gäbe, welche man umgehend einzusetzen gedenke. Dass Nagasaki das Ziel des zweiten Atombombenabwurfs werden sollte, wussten selbst die beteiligten Flugzeugbesatzungen nur Stunden vorher.
Um 11.02 Uhr vormittags öffnet sich die Hölle über dem engen Tal des Urakami-Flusses, einige Kilometer nördlich des Stadtzentrums von Nagasaki. Es ist der Teil der Stadt, in dem sich Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und die Urakami-Kathedrale befinden. Wenn der Mensch zum Ungeheuer wird, kümmern ihn drei Kilometer Luftlinie zu dem eigentlichen Ziel, den Schiffswerften nicht – Kollateralschaden nennt man das. In Nagasaki verdampften in wenigen Minuten mehr als 30.000 Menschen, von manchen blieb nur ein Schatten an der Wand.

Unter den Opfern waren tausende Schulkinder, Studenten und eine Gruppe von Gläubigen in der Kathedrale, die sich an jenem Donnerstag zur Vormittagsmesse versammelt hatte.
Pendler in der Straßenbahnlinie 1 und Wartende auf dem Bahnsteig der Urakami-Bahnstation wenige hundert Meter südlich des Epizentrums konnten ihren Tod nicht einmal kommen sehen. Die beiden Fotos hier stammen aus einem Bildband, den eine deutsch-französische Initiative 1981 zusammen mit einem japanischen Verlag publizierte („Hiroshima-Nagasaki. Eine Bildchronik der Atomaren Zerstörung“. Tokio 1981).

In der Wahrnehmung und Erinnerung steht meist Hiroshima im Vordergrund. Dabei war die Sprengkraft der Bombe über Nagasaki weit höher. Sie brachte das Inferno über eine Stadt, die dem „Westen“ in mehrfacher Hinsicht am Nächsten war: Als Japan sich im 17. Jahrhundert von der Welt isolierte, war es die niederländische Faktorei von Dejima auf einer Flussinsel mitten in der Stadt, welche die Handelsverbindung zu Europa hielt. Und die christlichen Gemeinden aus dem 16. Jahrhundert verstreuten und versteckten sich an den Küsten von Kyushu. Die Atombombe vom 9. August 1945 explodierte über dem Bischofsitz der Diözese von Nagasaki.
Unser Zug brauchte drei Stunden von der Kyushu-Shinkansen-Strecke bis in die Hafenstadt. Wir stiegen eine Station vor dem Endhaltepunkt aus, am Urakami-Bahnhof. Von dort nahmen wir die Straßenbahn Nr. 1 eine Station Richtung Norden. An der Straßengabelung ging es zu Fuß eine kurze Strecke bergan, unser Hotel lag in unmittelbarer Nachbarschaft des Atombombenmuseums mit der unterirdischen Gedenkstätte.
Der Besucher betritt sie zwischen bläulichen Glasstehlen, zwischen denen eine Treppe nach unten führt. In einer Halle sind die Namen aller nahezu 100.000 Opfer in Schubladen wie in einem historischen Archiv hinterlegt.
Im benachbarten Museum findet man Dokumente der Zerstörung in Bildern und Gegenständen. Eine Wanduhr ist um 11.02 Uhr stehen geblieben, exakt der Zeitpunkt der Explosion. Auch Reste der Fassade der Urakamai-Kathedrale sind im Museum aufgebaut. Wie in Hiroshima belegt das Museum in Nagasaki die unvorstellbare Wirkung der Bombe. Was in beiden Museen zu kurz kommt, ist der Kontext des Zweiten Weltkrieges und der Rolle des imperialen Japans. Hier verfügt der Inselstaat noch über Reserven bei der historischen Aufarbeitung.
Weiter unten am Talboden, zwischen Bäumen und Appartmenthäusern liegt das Epizentrum, markiert durch eine Stele auf einem Pflaster in konzentrischen Kreisen.
Es ist eher ein Versteck in der insgesamt unprätentiösen Stadt Nagasaki. Mir hat dies sehr gut gefallen, eine Stadt an der japanischen Peripherie, die unaufgeregt ihrem Alltag nachgeht. Die Mitsubishi-Werften in der Mündung des Urakami-Flusses sind immer noch der größe Industriezweig der Stadt.
Wir statten der Kathedrale einen Besuch ab, wie wurde 1959 wieder eingeweiht. Vor der Kirche hat man Statuen platziert, welche die Spuren der Atombombe zeigen.
Wie Hiroshima lebt auch Nagasaki mit der Erinnerung an die Atombombe. Beide Städte halten diese als Mahnung an die gesamte Menschheit aufrecht, sich des planetarischen Zerstörungspotentials der Atomwaffen bewusst zu bleiben (auch wenn derzeit die Zerstörung der Erde durch den Klimawandel eine größere Rolle im Bewusstsein spielt). Aber beim „Hiroshimatag“ am 6. August wird das Inferno, welches drei Tage später die Stadt Nagasaki heimsuchte, oft vergessen.
Im Konfuzius-Tempel von Nagasaki können Besucher ein kleines Experiment wagen: Ein Kupferkessel hängt an einer Kette über einem Wasserbecken. Mit einer Schöpfkelle soll man ihn soweit wie möglich füllen, ohne dass er seine Balance verliert. Ein Tropfen zuviel bringt ihn zum Umkippen. Wenn das nicht eine passende Metapher für unsere Zeit ist, für die atomare Aufrüstung genauso wie für die globale Umwelt.

Touring Trinity, the birthplace of the Nuclear dread. THE NEW YORK TIMES, 3 August 2021