Wie oft wünscht man sich weit weg, zum Beispiel auf eine einsame Insel. Ganz allein mit Palmen, Meer und Strand. Vielleicht noch Instagram oder Spotify. Gut, das Handy müsste man schon aufladen können. Ein kühles Bier am Abend wäre klasse, immer nur Kokosnüsse kann es ja auch nicht sein.
Für eine Inselgruppe vor der indischen Westküste sei der Ausbau zu einem „Traumziel“ eine Entwicklungsperspektive, sagen die Einen. Die Anderen sehen aber die Ökologie der Atolle und die Interessen der über 80.000 Einwohner auf zehn bewohnten Eilanden gefährdet. Auf den Inseln und dem Festland in Südindien ist darüber eine Kontroverse und ein politischer Machtkampf entbrannt.

Kennen Sie die Lakkadiven? Klingt wie Malediven, und sie sind tatsächlich nicht so weit weg davon. Die Atolle liegen verstreut vor der indischen Westküste. Ihre Namen wie Agatti, Minicoy, Kalpeni oder Kavaratti klingen wie Automarken. Solche Fleckchen hätten Anspruch auf „Trauminseln“.
Davon sind und waren sie immer weit entfernt. In alter Zeit wurden sie von Piraten überfallen, von Stürmen heimgesucht und boten auch sonst nicht viel zum Überleben, außer Fischerei und Kokospalmen. Dennoch gehör(t)en sie zu den dichtest besiedelten Regionen der Erde. Der Bevölkerungsdruck der Malabarküste setzte sich auf die Inseln fort.

Die 36 Inseln mit insgesamt etwa 32 km² Fläche und 82.000 Einwohnern sind ein sogenanntes Unionsterritorium. Die werden direkt von Delhi aus verwaltet – mit begrenzter Autonomie.
Kokosnüsse Reislieferung vom Festland
Die Inseln sind bitterarm, für Ausländer und auch indische Touristen waren sie lange Zeit nicht zugänglich. Als „Resident of India“, in Indien Steuern zahlend, hatte ich im Dezember 1983 mit meiner Familie eine Gelegenheit, die Lakkadiven zu bereisen – sozusagen. Das Ganze war ein Abenteuer, das ein Kapitel in meiner Autobiographie verdient (derzeit schreibe ich aber nicht an einer). Nur so viel: Wir durften eine der Inseln auf der viertägigen Kreuzfahrt betreten. Unser Schiff legte der Reihe nach auf Minicoy, Armini, Kavaratti und zuguter letzt auf Kalpeni an, bevor es über Nacht zurück in den Hafen von Cochin (heute Kochi) ging (die Fotos stammen von dieser Reise von vor knapp 40 Jahren).
Kommen und Gehen auf der Reede vor Amini Ausflug auf Kalpeni
Der damalige Administrator der Inseln, der zufällig mit auf unserem Schiff war, gab dem Kapitän die Erlaubnis, uns auf Kalpeni für einige Stunden von Bord zu lassen. Wir waren mit zwei kleinen Kindern (und blonden Haaren) die Sensation und sicher seit der indischen Unabhängigkeit die ersten Ausländer auf Kalpeni.
Die Menschen sprechen neben lokalen Dialekten Malayalam und gehören zum Islam. Zu uns waren sie nicht nur freundlich, ganz im Gegenteil, sie betrachteten uns als Hoffnungsschimmer für die Zunkuft der Inseln als Tourismusparadies (man hatte vom „Wunder“ der Malediven gehört, die schon Anfang der 1980er Jahre zum touristischen Traumziel geworden waren).
Die Lakkadiven tauchten jahrzehntelang nicht in den nationalen, geschweige internationalen Medien auf. In jüngster Zeit aber sind Kontroversen um die vom neuen Administrator geplanten Maßnahmen zur Entwicklung der Inseln entbrannt.
Der vom Innenminister in Delhi ernannte Administrator stammt aus Gujarat, wie Premierminister Modi. Kritiker halten das nicht für einen Zufall. Der kulturelle Gegensatz zwischen einem Gujarati und den Lakkadivern könnte nicht größer sein. Es scheint, als ob der Administrator kaum ein Fettnäpfechen auslässt, wenn er zum Beispiel den Verzehr von Rindfleisch in Schulkantinen verbietet.
Zudem wurde ein neuer Entwicklungsplan über die Köpfe der Insulaner hinweg erstellt. Er sieht umfangreiche Änderungen der Landutzung vor, trifft aber auf eine auch in Indien zunehmend kritische Zivilgesellschaft. Mehr noch, er trifft auf politischen Gegenwind aus den beiden Südstaaten Kerala und Tamil Nadu.
Artikel aus THE HINDU online (Auswahl):
Reforms for betterment of islanders, says Collector. 27. Mai 2021
Lakshadweep Administrator says projects for islands’ development. 27. Mai 2021
Stalin urges PM to recall administrator – The Hindu, 28. Mai 2021
Protests mount against Lakshadweep reforms. 28. Mai 2021
‘Corporate mindset’ driving administrator’s action, says Lakshadweep MP, 28. Mai 2021
Lakshadweep lockdown to continue for 7 days. 8. Juni 2021
State interventions, Lakshadweep’s future (Kommentar). 9. Juni 2021
No starvation in Lakshadweep, administration tells HC. 10. Juni 2021
Protests greet Administrator in Lakshadweep. 15. Juni 2021
Stop all reforms in Lakshadweep: Greens. 31. Mai 2021
People of Lkshadweep observe a 12-hours hungerstrike on 7 June. 3. Juni 2021
Panel had warned MHA on Lakshadweep. 2. Juni 2021
Aisha Sultana appears before Kavaratti police. 20. Juni 2021
Administrator spends ₹23 lakh for a single Lakshadweep trip. 16. Juni 2021
Sultana case leads to more exits from BJP. 12. Juni 2021
Vertreter der Insulaner und Aktivisten auf dem Festland protestieren vorallem gegen den geplanten Ausbau des Tourismussektor, der unter anderem eine Glasfaserverbindung zum Festland und den Ausbau des kleinen Flugplatzes für Jets vorsieht. Nicht zufällig wird auf das Potential der Malediven und dessen hochpreisigen Tourismus verwiesen (derzeit kostet eine Nacht auf dem einzigen Resort in Bangaram bis zu 535 Euro).
Der Verdacht hier ist, dass indische Großinvestoren den Reibach machen, zu Lasten der Insulaner, ihrer Kultur und der Umwelt der fragilen Inseln. Ein solcher Top-down-Ansatz ist aus der Zeit gefallen. Denn auch die Insulaner haben Pläne für und Erwartungen an ihre Zukunft. Auch sie wollen teilhaben am neuen Wohlstand.
Bei unserem Besuch 1983 war die Hoffnung groß, dass bald die Touristen kommen. Ein Jahr später verbrachte der junge Premierminister Rajiv Gandhi mit seiner Familie eine Ferienwoche auf den Lakkadiven. Mit dem Resort auf Bangaram und dem Bau der Landebahn auf Agatti begann jener bescheidene Ansatz von Tourismus, der inzwischen ganz Indien für die zunehmend wohlhabende Mittelschicht überzogen hat, von Ladakh bis Minicoy und vom Tal von Assam bis zum Ran of Kutch.
Man kann den Lakkadiven nur wünschen, dass dort alle Erfahrungen der Vergangenheit einbezogen werden – vor allem die von desaströsen Folgen für die Umwelt. Aber auch die Lehre, dass eine frühzeitige Einbeziehung der betroffenen Einheimischen erst Entwicklung nachhaltig macht, für Natur und Mensch gleichermaßen.
Wir können also weiterhin gern träumen, vom Strand, den Palmen, der Musik aus unserem MP3-Player und dem Laptop auf dem Schoß – wenngleich dann wohl für 500 € und mehr pro Nacht.
Vielen Dank für diesen Artikel, der mich vom Iznik-See für eine Weile in eine andere Welt entführt hat. Tolle Fotos und Hintergrundinfos – ein Lesegenuss!
Herzliche Grüsse
Nadja
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