Wo Berge und Flüsse Kathedralen sind

Aus dem grauen Morgenlicht färbte sich der Kanchenjunga langsam in Gold. Ich hatte mich extra wecken lassen, um das Schauspiel von meinem Hotel in Gangtok (Sikkim) beobachten zu können. Für die einheimischen Lepcha-Bevölkerung ist er der Wohnsitz von Dzö-nga, einem Geistwesen, der jetzt im Enchey Kloster hoch über Gangtok verehrt wird. Auch von dort ist der dritthöchste Berg der Welt sichtbar.

Im Volksglauben von Lepchas, Nepalis, Tibeter und Hindus gleichermaßen sind die Riesen des Himalaya Orte besonderer Spiritualität. Von ihnen steigen die Götter als Flüsse herab und bringen das Leben auf den heiligen Boden Indiens. Eine dieser Gottheiten ist Ganga. Und ähnlich wie in Sikkim ist auch hier der Moment, an dem sich Surya, die Sonne, hinter dem Horizont am Ufer des Flusses erhebt, von besonderer Bedeutung. Flüsse und Berge sind Indiens Kathedralen, das Eintauchen ins Wasser und die Wanderung zum Fuß der Berge heilige Handlungen.

Sonnenaufgang am Ganges bei Varanasi

Das Enchey Kloster in Gangtok ist fast 200 Jahre alt, aus dicken Mauern gebaut und mit prächtig bemalten Fenstern ausgestattet. Bei unserem Besuch hatten sich die Mönche zur Gebetsrezitation versammelt, Kindermönche spielten draußen im Sonnenlicht.

Der Blick auf den Berg und das Gebet zu seinem Geist, der im Kloster wohnt, alles unter blauem Himmel und klarer Luft, spannten einen unsichtbaren Bogen zwischen dem Kanchenjunga und den Mönchen.

2000 km weiter südlich ist der Schöpfungsakt der Welt in Granit gehauen. Am Ufer des Golfs von Bengalen, in Mahabalipuram, wurde im 7. Jahrhundert ein gewaltiges Relief erschaffen. Im dessen Mittelpunkt steht, wie die Göttin Ganga vom Himalaya hinabsteigt. Im Monsunregen fließt Wasser vom Felsen herab und bildet so diesen Akt nach.

Relief in Mahabalipuram

Alle Flüsse Indiens sind heilig. Indien und Hinduismus haben sogar den Namen von einem Fluss (Indus, sindhu = Fluss)). Im Süden Indiens ist es die Kaveri, welchen den göttlichen Ruf genießt. Und ebenso wie Ganga ist ihr Wasser lebensspendend, buchstäblich. Ohne die Bewässerung aus der Kaveri in ihrem Delta wäre Südindien nicht die Reiskammer des Subkontinents und eine der dichtest besiedelten Regionen der Erde.

So tauchen insbesondere im August, wenn die Kaveri Wasser aus den Monsunniederschlägen führt, Menschen zum heiligen Bad in die Fluten.

Wenn wir heute lesen, dass tote Körper den Ganges hinabschwimmen, weil die Angehörigen kein Geld haben, sie zu verbrennen und die Asche dem Fluss zu übergeben, dann zeigt das die Tragik der Pandemie in Indien.

Und die Reinigung der Seele in eiem schmutzigen Fluss wie dem Ganges ist für uns nur schwer nachvollziehbar. Für Hindus sind das Äußerlichkeiten, die dem Heiligen keinen Abbruch tun.