In einer unscheinbaren Vitrine der Schatzkammer in der Wiener Hofburg liegen ein kostbares Kreuz und eine Lanzenspitze. Sie sind Bestandteil der Insignien des Heiligen Römischen Reiches. Warum das alles in Wien zu sehen ist, mag eine eigene Geschichte sein. Aber mit der Lanzenspitze hat es eine besondere Bewandtniss: Otto der Große trug sie bei der Schlacht auf dem Lechfeld am 10. August 955. Der Sieg bei Augsburg begründete den Anspruch eines „römischen“ Kaisertums nördlich der Alpen, den erst Napoleon tausend Jahre später zunichte machte.
„Heilige Lanze“ Reichsinsignien
In Paris würde dafür ein Pantheon gebaut oder – wie in London – der Tower dafür komplett reserviert – das Display in Wien ist ein sympathisches Understatement. Der Besucher musste sich in einem Hinterhof der Hofburg noch unter einem Baugerüst durch arbeiten, bevor er diese historischen Schätze findet. Es waren nur wenige Menschen in der Hofburg an jenem Tag im September 2020, kurz bevor Wien „Risikogebiet“ wurde.
Die Heilige Lanze in der Vitrine in Wien, so der feste Glaube im Mittelalter, war die des römischen Legionärs auf Golgatha, der den Körper des Gekreuzigten öffnete. In sie eingefügt sei ein Nagel des Kreuzes. Mit der Lanze verbunden ist die Mauritius-Legende, eine der zentralen die Heiligengeschichten des Mittelalters. Über Gallien, Burgund und Aachen erreichte die Lanze Otto, den zum König gekrönten Herrscher aus Sachsen.
Über sein Leben und seine Taten wissen wir alles von seinem Biographen, Widukind von Corvey, aus dem gleichnamigen Kloster an der Weser. Bevor er die Ungarn im Sommer 955 aus schier aussichtsloser Lage besiegte, lässt ihn Widukind eine Rede an seine Männer halten, die auch heute noch zur Anschauung in einem Motivationsseminar gelten könnte:
„Dass bei diesen misslichen Umständen eine vorzügliche Tapferkeit nötig ist, seht ihr selbst, edle Krieger!“ sagt Otto. „Bisher habe ich, mit Hilfe eurer unermüdsamen Hand und eurer unüberwindlichen Waffen, außerhalb meines Reiches rühmlich gefochten und überall gesiegt. Soll ich nun in meinem eigenen Lande, in meinem Reich die Flucht ergreifen?“ Der Gegner sei uns an Menge überlegen, er wisse das, aber nicht an Tapferkeit, nicht an Waffen. Zudem habe man göttlichen Beistand, die Ungarn nicht. „Wir müssten uns ja schämen, wenn wir, Herren von beinah ganz Europa, unseren Feinden nachgehen wollten. Wenn dann einmal keine Rettung ist, meine Krieger, so ist‘s doch besser rühmlich zu sterben, als sklavisch zu leben oder wohl gar den wilden Tieren gleich am Stricke erwürgt zu werden.„
Es sei besser, jetzt die Schwerter sprechen zu lassen. Hierauf ergriff er sein Schwert und den Schild und die heilige Lanze und spornte als erster sein Ross gegen den Feind und erfüllte so die Pflichten des obersten Ritters und besten Heerführers, schreibt Widkukind weiter. Mit diesem Sieg überwand Otto nicht nur die Ungarn, sondern alle Rivalitäten der Fürsten und Herzöge. Er wurde zum unumschränkten Herrscher und später in Rom vom Papst zum Kaiser gekrönt, sozusagen der Gründungsakt des Heiligen Römischen Reiches.
Otto der Große – eine Homestory
Mittelalterliche Herrscher waren fast dauernd unterwegs, diesseits und jenseits der Alpen. Wir wohnen hier in unmittelbarer Nachbarschaft ottonischer Favorites: Magdeburg, Quedlinburg und Memleben an der Unstrut. Unter den eingeschränkten Reichweiten in der Pandemie haben wir uns einige dieser Stätten angeschaut.
Magdeburger Dom von Südosten
Ganz vorne steht Magdeburg. Hier stiftete er ein Kloster, aus dem später der Dom mit seinem Grab und dem seiner ersten Frau Edith wurde und den er Mauritius widmete. Er wurde sein „Lieblingsheiliger“: ein glaubensstarker Kommandant der römischen Legion aus Theben (heute Luxor, Oberägypten), der sich im 3. Jahrhundert weigerte, Befehle des römischen Kaisers gegen christliche Glaubensbrüder in der heutigen Westschweiz umzusetzen. So wurde seine Legion zur Strafe „dezimiert“ und schließlich auch alle Befehlsführer hingerichtet. Mauritius, ein Schwarzer, ist einer der populärsten Heiligen des frühen und hohen Mittelalters.
Im Dom hängt der Torso einer Mauritiusfigur, die wohl um 1250 entstand. Sie gilt als die älteste Darstellung eines Schwarzafrikaners in Europa. Im Jahr 2019 hat man die Figur über einen 3-D-Drucker rekonstruiert, wohl in den Originalfarbtönen. Sie ist im Dommuseum in Magdeburg ausgestellt.
Dass Otto sich einen standhaften, wenngleich „befehlsverweigernden“ Soldaten als Vorbild wählte, sagt viel über seinen Charakter aus. Unser Chronist aus Corvey beschreibt ihn, wie eine Bunte-Reporterin die Windsors für eine Homestory:
„Außer dem Ernste, mit dem Regierungsangelegenheit betrieben werden müssen, war er stets freundlich, gab viel, schlief wenig und redete im Schlafe immer, so dass man hätte glauben sollen, er wache beständig. Seinen Freunden schlug er nichts ab und übermenschlich treu war er in seinen Versprechungen. …. Er hatte außerordentliche Geistesfähigkeiten. Denn ohngeachtet, dass er bis an den Tod seiner ersten Gemahlin, Edith, mit den Wissenschaften gänzlich unbekannt war, so hat er nachher noch so viel gelernt, dass er ganze Bücher lesen und verstehen konnte. Er hatte überdieß auch die lateinische und slawische Sprache in seiner Gewalt, aber er bediente sich ihrer nur sehr selten. Auf der Jagd war er unverdrossen, liebte das Brettspiel und das Vergnügen zu reiten genoss er mit königlichem Anstande.
Seine ansehnliche Statur drückte ganz die kaiserliche Majestät aus; sein weißes Haar rollte die Schultern herab; seine funkelnden Augen warfen, wie Blitze, durch den schnellen Blick einen gewissen Glanz von sich; sein Gesicht war rötlich; sein Bart war länger, als ihn die Alten zu tragen pflegten, seine Brust war eines Löwen ähnlich, hie und da gleichsam mit Mähnen bewachsen. Der Unterleib stand in einem schönen Verhältnis mit dem ganzen Körper. Der Gang war zuweilen schnell, doch immer mit Anstand. Die Tracht vaterländisch, doch nie hatte er Kleidung nach dem Schnitte des Auslandes getragen. So oft er die Krone tragen musste, pflegte er – wie glaubwürdige Personen erzähen – vorher zu fasten.“
Historiker würden natürlich allerlei Quellenkritik an der Beschreibung des Chronisten üben, aber tun wir das etwa bei der Hofberichterstattung der Windsors? Nehmen wir die Beschreibung (hier zitiert aus einer Übersetzung aus dem Lateinischen von 1790) wörtlich: Otto war ein gewinnender Mann, telegen (wenn es das denn im 10. Jhd. gegeben hätte) und sogar eitel – Diät vor repräsentativen Terminen.
Otto kämpfte bis 955 meist gegen die eigene Familie, die Intrigen gegen ihn anzettelten. Aber er konnte verzeihen, einer seiner wohl vielen Tugenden. Einen Sohn, den er mit 16 mit einer slawischen Adligen gezeugt hatte, machte er zum Erzbischof von Mainz. Der Sohn Luidolf aus der Ehe mit Edith verschwor sich immer wieder gegen den Vater, wohl auch aus Eifersucht über dessen zweite Heirat und den Stiefbrüdern und -schwestern aus dieser Ehe.
Ein besonderer Tag für Familie, Freunde und Fürsten war das jährliche Ostertreffen in Quedlinburg. Nach dem Tod seines Vaters Heinrich, der in der Stiftskirche begraben liegt, blieb seine Mutter in Quedlinburg. Man möchte sich auf dem Kopfsteinpflaster und zwischen den Giebeln der Fachwerkstadt heute gerne vorstellen, wie das Vorharz-Städtchen an solchen Festtagen aussah.

Immer wieder besuchte Otto auch die Pfalz in Memleben an der Unstrut. Traumhaft gelegen, am südlichen Flussufer und bevor die Unstrut zwischen steilen Ufern Richtung Saale fließt. Wir waren an einem warmen Augusttag dort und konnten Ruine und Kloster besichtigen. Eine lohnenswerte Ausstellung zum mittelalterlichen Leben im Kloster und ein Puzzle aus Klötzchen zu den Verwandschaftsverhältnissen der Ottonen vermittelten uns eine Portion Wissen vor der Probe eines guten Saale-Unstrut-Jahrgangs.
Hier in Memleben war Ottos Vater Heinrich gestorben und an diesen Ort kam er gern zurück. Der Tod seiner Mutter Mathilde vier Jahre zuvor und der zwei Söhne aus den ersten beiden Beziehungen machten den 60-jährigen Kaiser, jetzt auf dem Höhepunkt seiner Macht, melancholisch. Dass Memleben auch sein Schicksal werden könnte oder gar sollte, scheint er geahnt zu haben. Widukind beschreibt die Ereignisse zwischen Ostern und Pfingsten 973 so:
„Er … flog auf den Fittichen des Sieges (von Italien) nach Gallien von wo aus er nach Deutschland gehen und das nächste Osterfest in der berühmten Stadt Quedlinburg feiern wollte. (Dort hatte) sich denn eine Menge verschiedener Nationen versammelt, und sie begingen das Fest mit großer Freude, weil er dem Vaterlande und seinem Sohne wiedergeschenkt war. In Quedlinburg blieb er nicht länger als 17 Tage. Er beging das Himmelfahrtsfest zu Merseburg. … Hier erteilte er Gesandten aus Afrika, welche mit königlicher Pracht und Geschenken zu ihm kamen Audienz und behielt sie ein Zeit lang bei sich
Den dritten Tag vor Pfingsten kam er nach Memleben. In der folgenden Nacht stand er nach seiner Gewohnheit auf und wohnte dem Abend- und Morgengottesdienst bei. Darauf ruhte er ein wenig. Nach geendeter Messe teilte er wie gewöhnlich Almosen aus, aß ein wenig und begab sich wieder zu Bette. Als es Zeit war, ging er heiter und munter zur Tafel. Den Nachmittagsgottesdienst wohnte er wieder bei. Da das Evangelium abgesungen war, überfiel ihn Hitze und Mattigkeit. Als die umstehenden Fürsten dies bemerkten brachten sie ihn auf einen Sessel. Er senkte das Haupt, als ob er ohnmächtig würde, aber sie brachten ihn wieder zu sich. Daraufhin erhielt er das Sakrament des Leibes und Blutes unseres Erlösers, und dann richtete er ohne Seufzen, mit viel Ruhe, den letzten Hauch zu dem allbarmherzigen Gott. …„
Bei ihm in Memleben war sein Sohn Otto, den er als Nachfolger bestimmt hatte, und weitere Fürsten. Der Leichnam wurde in einer Prozession nach Magdeburg überführt, wo Otto neben seiner ersten Frau Edith bestattet wurde. Das Grab des Kaiserpaares ist heute im Magdeburger Dom zu besichtigen.
Mittelalter und heute
Städte, die nicht wie Magdeburg, Halberstadt oder Braunschweig im Krieg stark zerstört wurden, vermitteln heute noch ein wenig von der Lebenswirklichkeit damals, und sei es nur im Straßenmuster.
Aber beschäftigt man sich mit Politik und Macht des 10. Jahrhunderts und den Protagonisten, so wird das Mittelalter modern. Da reiten König und Herzöge durch halb Europa, verteidigen Machtansprüche an Rhein, Rhone und jenseits der Alpen, verhandeln mit den Sarazenen in Süditalien und vereinbaren ein Ehearrangement mit dem Hof in Konstantinopel. Das alles klingt, als sei Otto der Große mit Regierungsjet und Laptop unterwegs gewesen. In einer Zeit, als 40 Jahre schon ein beachtliches Alter war und die meisten Menschen allenfalls das Nachbardorf kannten, sind die politischen Perspektiven und Qualitäten eines Ottos überragend. Man könnte sagen: Er wäre heute ein Politstar, vielleicht Präsident der EU-Kommission. Und er würde es bestimmt wieder mit den Ungarn aufnehmen.