Unsere heiligen Kühe sind Autos, Urlaubsreisen, Weihnachtsmarkt und Silvesterböller. Aber wie ist es im Ursprungsland der heiligen Kühe?
Nun ja, beim Auto gilt das zunehmend auch. Aber wer Indiens Großstädte kennt, der hat Kühe seelenruhig – das Wort hat hier buchstäbliche Bedeutung – zwischen dem Verkehr wandeln sehen. Und nicht nur Kühe: Abends laufen etwa in Kochi (Kerala) Elefanten im Berufsverkehr mit, nach getaner Arbeit im Wald. Und für jeden Straßenköter in Stadt und Land wagen indische Bus- und Autofahrer die riskantesten Manöver. Wasserbüffel oder Ziegenherden kreuzen die Straße, der Verkehr wartet geduldig. Auf der Autobahn zwischen Udaipur und Ahmedabad sahen wir Kühe entspannt auf der Fahrbahn kauend.

Tiere scheinen in Indien zu ahnen, dass sie vollwertige Mitglieder des Verkehrsgeschehens sind. Keines reißt aus oder springt verschreckt zur Seite. Und vor allem Kühe sind tatsächlich heilig.

Kühe waren seit jeher in einer Agrargesellschaft wie Indien wichtig für die Landwirtschaft (Dung, Zugtier, Milchspender). Sie waren und sind für die meisten Hindus unantastbar. Zum Pongalfest in Tamil Nadu werden sie geschmückt und mit besten Speisen gefüttert. Auf einem Felsrelief in Mahabalipuram aus dem 7. Jahrhundert wird Krishna beim Melken gezeigt.
Der Gott Shiva reitet auf einem Stier, der Nandi wird in vielen Tempeln dargestellt.
Original und Denkmal
So bleibt die Kuh selbst im modernen Indien „heilig“ im Sinne von unverletzbar und ein Symbol für traditionelle Werte.
Sollten wir nicht auch heilige Kühe bei uns wertschätzen? Zum Beispiel die Unverletzlichkeit der 38 Stundenwoche und des Sonn- und Feiertages? Schein-Selbstständigkeit oder Home Office drohen das zu untergraben.
Wie wärs mit Hochachtung vor sozialen und pflegerischen Berufen? Statt Albernheiten wie Vater- oder Muttertag könnte man daraus einen neuen „Wertschätzungstag“ mit einer verbesserten Lohn- und Arbeitszeitregelung machen.
Ich bin auch dafür, unsere Verfassung zur heiligen Kuh zu machen. Sie ist das Beste, was wir haben und historisch gesehen je hatten. Der 23. Mai sollte Nationalfeiertag werden. Im Jahr 2021 ist das zufällig auch Pfingsten, aber das passt. Auf einen freien Pfingstmontag würden in anderen Jahren dafür sicher auch Kirchgänger verzichten.
Und heilige Kühe schlachten? Das tun wir inzwischen unter dem Label Liberalisierung oder Entbürokratisierung tagtäglich und meist unbemerkt. Copyprights werden unterlaufen, jetzt soll der Patentschutz ausgehöhlt werden. In den Medien, die im freiheitlichen Staat eine zentrale Rolle spielen, fallen die Grenzen zwischen Redaktion und Werbung, zwischen Bericht und Meinung. Soziale Plattformen im Internet erklären sich einfach zu IT-Unternehmen und lassen jeder Meinungsäußerung „freien Lauf“, ohne eine Verantwortung für Inhalte zu übernehmen (und zahlen für durch Werbung erzielte Einnahmen nicht einmal Steuern). Pressefreiheit war anders gemeint.
Summa Summarum: Lieber ein paar heilige Kühe unbehelligt lassen, als zu viele zu schlachten.