Indien ist seit über 40 Jahre für mich wie eine zweite Heimat. Im September 1977 reiste ich zum ersten Mal mit dem Zug von Pakistan aus ein. Nach der langen Reise durch die trockenen Ebenen und Hochländer von Anatolien, über den Iran und Afghanistan bis zum Khyber Pass schienen die grünen Flussebenen des Subkontinents eine Gegenwelt von Fruchtbarkeit und Überfluss. Unsere erste Nacht in Indien verbrachten wir im Goldenen Tempel von Amritsar

Vor zwei Wochen habe ich in einem Blog die sensationshaschenden Schlagzeilen unserer Medien kritisiert (etwa wie Coronachaos in Indien, Indien kann nicht atmen etc.). Ich habe ihn inzwischen gelöscht. Und auch ich bin Ende Januar in die Falle getappt, dass Indien die Coronawelle gut überstanden hat. Die Hoffnung, dass einem Land wie Indien das Schlimmste erspart bleibt, wurde nur wenige Tage darauf durch die Realität abgelöst.
In diesen Tagen sind für mich nicht die brennenden Scheiterhaufen in den Metropolen des Nordens das Schockierende – so sehr dies unsere Schlagzeilen immer noch beherrscht. Das Verbrennen der Toten ist ein Ritus in vielen Kulturen, im Hinduismus wird so die Seele geläutert und für die Wiedergeburt vorbereitet. Auf uns wirken Bilder von Scheiterhaufen wie das Versagen von Ordnungsbehörden, und das sollen sie wohl dokumentieren.
Aber das eigentliche Versagen von der Regierung in Delhi und den Behörden in den Bundesstaaten, insbesondere im Norden des Landes, liegt darin, dass Menschen in Krankenhäusern wegen fehlendem Sauerstoff sterben. Mit dem Allerweltsstoff in den Lungen hätten an Covid19 Erkrankte eine Chance, das Virus zu besiegen.
Angehörigen stehen mit Stahlzylindern Schlange, um den lebensrettenden Stoff für ihre Lieben zu finden. Diese Bilder aus einem Land, welches den Hunger besiegt hat, Raketen ins All schickt und für die Welt Software und Impfstoff produziert, sind der größte Schock.


In der Berichterstattung spielen Zahlenvergleiche eine große Rolle, als ob es einen Wettbewerb gäbe, wer Weltmeister in Infizierten und Toten sei. Indien rivalisiert mit den USA um diesen Platz. Ein Beispiel: Wenn in Deutschland 20.000 Infizierte am Tag erfasst werden, entspräche das in Indien bezogen auf die Einwohnerzahl 300.000 (Indien hat 15-mal so viele Einwohner wie Deutschland). Und bezieht man die bei uns alles entscheidende Inzidenzzahl auf Indien, ist sie dort weit niedriger als in Deutschland.
Aber Statistiken sind Schall und Rauch, auch in Indien. Nicht aus bösem Willen (obwohl alle Regierungen, von Brasilia über Ankara bis Moskau und Delhi gern mit Zahlen spielen), sondern weil es schlicht unmöglich ist, im Gewimmel der Großstädte und den entlegenen Dörfern (immer noch lebt fast die Hälfte aller Inder auf dem Land) verlässliche Statistiken zu Erkrankten und an Covid Verstorbenen zu gewinnen. Vermutlich sind Infektions- und Todeszahlen um das 5- bis 10-fache höher.

Die Tragödie in Indien spielt sich also tagtäglich unter der Hitzeglocke der Vormonsunzeit ab. Die Regierung hat kein Konzept, weil sie Warnungen und Fakten nicht wahrhaben wollte. Bürger sind fahrlässig oder haben in den Zehnermillionen-Metropolen des Landes keine Chance auf Abstand und Lüften.
Wie fast immer sind die Menschen auf sich gestellt, Hilfe und Beistand findet innerhalb von Familien und Nachbarschaften statt. Das ist immerhin eine von Indiens Stärken. Aus Tragödien entsteht manchmal auch Hoffnung. Meine wäre es, dass die indischen Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur wachgerüttelt werden, mit den Erfahrungen aus der Pandemie neue politische Zielsetzungen abzuleiten. Solche, die auf administrative Effizienz, auf Schwerpunkte im sozialen Bereich und auf den Aufbau eines besseren Gesundheitssystems zielen. Indien hat die Grundlagen dazu längst gelegt, es fehlt nur der Wille zum Handeln.
„Social murder and the missing state“. Kommentar in THE HINDU online, 7.5.2021