Spuren der Seele finden wir häufig in unserer Sprache: Wir sind „beseelt“ von Gedanken oder wir sagen „Sie ist eine gute Seele“. Manchmal suchen wir einen Soul Mate, einen Seelenverwandten.

Für die indische Religionsgemeinschaft der Jains ist die Frage geklärt: Alle Lebewesen, sogar Pflanzen haben eine Seele und damit einen Anteil am Geistigen. Es gibt eine unendliche Anzahl von Seelen. In welcher stofflichen Form die Seele existiert, hängt vom Karma ab. Eine ethisch und sittlich strenge Lebensweise kann die Seele von Verunreinigungen befreien und sie in den Zustand ruhiger Glückseligkeit überführen. Aber dies ist bei Weitem nicht für alle Seelen möglich.
Gegründet wurde die Jain-Religion von Mahavira (=“großer Held“), der im 6. Jhd. vor Christus ein Zeitgenosse von Siddhartha Gautama war. Beide wollten dem Leid der ewigen Wiedergeburt und der sozialen Hierarchie, wie sie von Brahmanen gelehrt wurde, einen Weg der Befreiung entgegen setzen. Dazu gehören für Jains
Ahimsa, Lebewesen nicht zu töten oder zu verletzen,
Satya, keine Lügen und Unwahrheiten verbreiten,
Asteya: sich nicht an fremdem Eigentum vergreifen,
Brahma: keine unkeuschen Beziehungen eingehen, mithin die Pflicht zu Treue und Vertrauen
Aparigraha: materielle Wünsche auf lebensnotwendige Güter beschränken (sinngemäß zitiert aus „Jainismus“ bei Wikipedia).
Der von Mahavira begründete Jainismus hat in Indien heute nur rund 4 Millionen Gläubige. Sie aber haben großen Einfluss, vor allem in Mumbai und im Bundesstaat Gujarat. Wer bei den wichtigen Lebensregeln die Lehre von Mohandas Gandhi wieder erkennt, der hat dies richtig interpretiert: Gandhi stammte aus Gujarat – ebenso wie der jetzige indische Ministerpräsident Narendra Modi.
Jains leben vegetarisch oder vegan, Gujarat ist ein „dry state“ – Alkohol wird nicht ausgeschenkt. Häufig findet man Jain-Tempel auf Bergspitzen. Dort ist man der ewigen Glückseligkeit nahe. Auf dem Berg Shatrunjaya bei Palitana sind es an die tausend Tempel, die von privaten Stiftern in unterschiedlichen Größen und Stilen erbaut wurden. Rund 3500 Stufen müssen Besucher und Pilger bewältigen, um das Tempelgelände auf dem Berg zu erreichen. Häufig führen sie Stöcke mit sich, mit denen Käfer oder Insekten vertrieben werden sollen, die man vielleicht versehentlich zertreten könnte.

Ich war 1984 mit meiner Familie zum ersten Mal in Palitana und auf dem heiligen Berg der Jains. Fast 30 Jahre später hatte ich Gelegenheit zu einem zweiten Besuch.
Meine Familie auf dem Weg zu den Tempeln (Dezember 1984)
Man besteigt den Berg barfuß, zumindest nicht in Lederschuhen. Die Tempel sind in enger Nachbarschaft gebaut, mit vielen Ornamenten und Figuren. Die Wege dazwischen sind mit Marmor verkleidet und überaus sauber gehalten.
Tempel auf dem Berg Shatrunjaya

Der Shatrunjaya liegt weitab von den klassischen Touristenrouten. Von Mumbai aus kann man nach Bhavnagar fliegen und nach Palitana weiterfahren, von der Hauptstadt Ahmedabad aus ist Palitana in knapp fünf Stunden zu erreichen.
Stadt und Berg sind Zentren einer Religionsgemeinschaft, die selbst in Indien mit seiner kulturellen Vielfalt ungewöhnlich ist. Auf dem Shatrunjaya kann die Seele baumeln oder gar schweben.