Auf den Straßen von Hanoi

Vietnam hat mich in meiner Jugend abends am Fernsehschirm begleitet. Kein Tag zwischen 1965 und 1975 verging, ohne dass nicht irgendeine Neuigkeit aus dem kriegsgeschüttelten Land in der Tagesschau zu sehen war: Offensive hier, Gegenoffensive dort. Fliehende Menschen, Napalm über Palmen und Bomber über Hanoi. Im Oktober 2019 habe ich eine Reise durchs Land gemacht, die in Hanoi begann und dann per Zug bis nach Ho Chi Minh Stadt/Saigon führte.

Mein erster Tag in Hanoi begann mit krähenden Hähnen mitten in der Stadt. Das Hotel war eine Oase der Ruhe gewesen, aber der erste Schritt auf die Straße kam einem Kulturschock in doppelter Hinsicht gleich: Gegenüber gab es eine Bäckerei, die Brötchen und Baguette auslieferte – ganz klar französischer Tradition geschuldet. In Malaysia, von wo ich nach Hanoi angereist war, nicht denkbar. Aber um an das leckere Brot zu kommen, musste ich zwischen einem unablässigen Strom von Motorrollern mein Leben riskieren. Zum Glück servierte das Hotel das Weißbrot auch zum Frühstück.

Blick vom Hotelzimmer auf Hanoi

Die Pulks von Motorrollern bewegen sich auf den Straßen Hanois ohne Unterbrechung. Sie suchen sich den Weg, wo Platz ist. Das ist mehr wie in Indien, denn in Malaysia.

Völlig unvermittelt traf ich an der Doi Can Road auf die erste Spur des Vietnamkrieges, hier mitten in der Stadt: Auf einem Platz zwischen den Häusern lagen die Reste eines abgeschossenen B-52 Bombers. Ein ganzes Museum ist dem Kampf gegen die US-Luftangriffe auf die vietnamesische Hauptstadt gewidmet. Vor dem Museum waren auch erbeutete Abwehrraketen zu sehen.

An einer Kreuzung weiter Richtung Innenstadt, unweit des Ho Chi Minh-Mausoleum, flochten Männer und Frauen an Blumengebinden. Sie werden bei festlichen Anlässen überreicht oder an Ehrenmälern abgelegt.

Das Mausoleum ist ein architektonisch schlichter Bau, aber an einem gewaltigen Platz gelegen, umgeben von Regierungseinrichtungen und Museen. Ho Chi Minh ist in Geschichte und Politik des heutigen Vietnams nicht wegzudenken. Sein Bild und sein Kampf und der seines Volkes sind auf Postern und an Gedenktagen überall präsent.

Ich setzte meinen Weg Richtung Hauptbahnhof fort, immer begleitet von Motorrollern und dazwischen „schwimmenden“ Autos. Für die Straßenküchen stand zuweilen das Mittagessen lebend in kleinen Käfigen herum. In jedem Fall wird frisch serviert.

Der Mittelteil des Hauptbahnhofs wurde nach seiner Bombardierung durch die USA neu gebaut. Für den Bahnhof einer Großstadt war er ziemlich verwaist, aber in Vietnam wird viel geflogen – nach Ho Chi Minh City gibt es von Hanoi aus stündlich Flüge.

Mein Ticket für die 1700 km-Fahrt der Länge nach druch Vietnam hatte ich im Internet in Deutschland erstanden, völlig problem los. Ich prüfte nochmals Abfahrtszeiten. Im Bahnhof gab es einen kleinen Supermarkt, ich wusste also, dass ich mich vor der Abfahrt dort mit Verpflegung eindecken konnte.

Zurück ins Gewühl auf den Straßen führte mich mein GPS zum Hoa Lo Gefängnis. Es nimmt eine herausragende Stellung in der Geschichte Vietnams ein, einschließlich des Kriegs gegen die US-Amerikaner.

Heute ist nur noch ein Teil des Komplexes aus der Kolonialzeit erhalten. Das Gefängnis dient als Museum und Dokumentationszentrum. Gleich nebenan stehen moderne Hochhäuser, Zeichen der Zeit im neuen Vietnam.

Das Museum dokumentiert zunächst die Behandlung der Häftlinge in französischer Zeit. Das Museum war auch Hinrichtungsstätte, belegt durch eine ausgestellte Guillotine.

Unter den meist politischen Gefangenen formierte sich von hier aus der Geist des Unabhängigkeitskampfes. Im Juli 1954 wurde Vietnam geteilt und Nordvietnam unabhängig, in meinem Geburtsjahr.

Ein großer Teil des Gefängniskomplexes dient der Dokumentation des Vietnamkrieges in den 1960er Jahren, auch den weltweiten Protestbewegungen. Bekannt wurde es unter den hier gefangen gehaltenen US-Piloten als „Hanoi Hilton“. Prominentester Gefangener war John McCain, später einflussreicher US-Senator. Seine Fotos und seine Zelle werden besonders hervor gehoben. McCain war mehr als fünf Jahre im Hoa Lo gefangen.

McCain starb 2018, zuvor war seine Vietnamerfahrung vom Amtsinhaber im Weißen Haus verächtlich gemacht worden. Wer je im Hanoi Hilton war, dem wird die Niederträchtigkeit solcher Äußerungen bewusst und auch, wie tief der politische Diskurs im westlichen Vorzeigestaat zwischen 2016 und 2020 gefallen war.

Der Besuch im Hoa Lo hat mich besonders beeindruckt, weil er jenseits der wirtschaftlichen Dynamik in Vietnam die leidvolle Geschichte des Landes wie in einem Brennglas dokumentiert. Kaum vorzustellen, dass gut die Hälfte der Bevölkerung noch gar nicht geboren war, als dieser lange Kampf 1975 endlich gewonnen war.

Nach einem Mittagessen in der Nähe des Gefängnisses nutzte ich meine Mitfahr-App Grab, die in ganz Südostasien gilt, um ein Auto zurück zum Hotel zu finden. Der Vorteil: Ziel und Fahrpreis stehen fest und sind auf dem Handy abzulesen, ohne sich in allerlei Händel in unbekannter Sprache zu verlieren. Von jeder Straßenecke aus konnte man jedes beliebige Ziel erreichen. Auf einen Motorroller als Mitfahrer hätte ich mich aber beileibe nicht getraut.

Am übernächsten Tag musste ich früh aus dem Hotel auschecken. Zum Glück war ich zeitig zum Bahnhof unterwegs, weil wir sehr schnell in Staus in der Innenstadt von Hanoi feststeckten.

Um 9 Uhr sollte mein Zug, der Reunification Express Nr. 5, auf die Reise nach Süden gehen. Ich hatte eine Liege in einer Vier-Bett-Kabine gebucht. Weiß bezogen, mit Klimaanlage, Stromanschluss und WLAN. Die Fahrt ging pünktlich los, führte durch de Vorstädte von Hanoi und den ganze Tag über durch die Reisfelder des mittleren Vietnams.

Ab und an kamen Essensverkäufer durch, meine beiden Mitreisenden halfen mir, die Vorabbestellungen für die Hauptmahlzeiten zu bewältigen. Vietnam Railways hatte zur Deko einen Strauß Plastiktulpen ans Fenster gestellt.

Gegen Nachmittag setzte starker Regen ein, Oktober ist Monsunzeit. Die Nachtstrecke war wohl die landschaftlich schönste der Reise, aber die haben wir gut verschlafen.

Nach dem Frühstück am zweiten Tag ging es den ganzen Tag über weiter, erst als die Sonne sich wieder senkte, kamen die Lichter von Ho Chi Minh City in Sicht. 36 Stunden waren wir seit Hanoi unterwegs, als der Zug eine halbe Stunde zu früh in Saigon ankam.

Weiterer Blogbeitrag zu dieser Reise:

Saigon Moments (in Englisch)