
Indonesien ist das größte islamische Land der Erde. Und doch ist hier das Hindu-Epos des Ramayana mindestens so populär wie in Indien. Für Bali ist die hinduistische Tradition bekannt, für die Hauptinsel Java weniger.
Östlich von Yogjakarta liegen die Hindu-Tempel von Prambanan. Sie stammen aus dem 9. Jahrhundert, aus der gleichen Epoche wie der nicht weit entfernt gelegene Borobodur. Beide bezeugen die lange Geschichte der indonesischen Inseln als hinduistisch und buddhistisch beeinflusste Herrschaftsbereiche, Jahrhunderte bevor der Islam sie erreichte.
Der hinduistische Einfluss lebt in den populären Erzählungen bis heute fort. Das Ramayana stammt aus den Jahrhunderten um unsere Zeitenwende und beschreibt Liebe und Eifersucht an Fürstenhöfen, Intrigen und Heldentaten und letztendlich den Sieg des Guten über das Böse. Dass der Held der Geschichte, der Königssohn Rama, eine Inkarnation von Vishnu ist, bildet in Indien einen zentralen Hintergrund. Dennoch steht das Ramayana für universal gültige Lehren jenseits einer bestimmten Religion.
Lange waren die Wayang, Schattenspiele des Ramayana auf Java populär. Heute findet man sie eher selten, weil sich die Tradition der Figurenherstellung und der Spielkunst im modernen Indonesien verliert. Dafür werden jetzt opulente Tanzdramen zum Ramayana aufgeführt. Ein solches Ballett haben wir im Sommer 2019 an den Tempeln von Prambanan besucht.
Unser Hotel Yogjakarta hatte Karten für die Vorstellung reserviert. Wir fahren in der Dämmerung die knapp 15 km nach Prambanan und essen in einem großen Gartenrestaurant mit Buffet und Bier zu Abend. Die Show beginnt nach Sonnenuntergang, wenn die Tempel im Hintergrund angestrahlt werden. Eigens für solche Vorstellungen war ein großes Openair-Auditorium für Hunderte von Zuschauern westlich der Tempelanlage gebaut worden. Eine Bühnenfläche bietet Platz für große Gruppentänze. Rechts und links einer Freitreppe sind die Sänger und das Orchester mit traditionellen Instrumenten plaziert. Auf Monitoren an beiden Seiten der Bühne werden die Dialoge und Narrative auf Englisch projiziert.

Die Dutzende von mitwirkenden Tänzerinnen und Tänzern wechseln für jede Szene die Kostüme, so dass ein bunter Reigen geliefert wird. Die Show dauert über zwei Stunden und wird von einer Pause unterbrochen. Am Ende des ersten Aktes gehen Hütten hinter der Bühne in Flammen auf, real. Sie stellen die Schlacht des Prinzen Rama und seiner Affenarmee bei dem Kampf gegen den Dämonen Ravana auf der Insel Lanka dar. Das Ramayana ist mit Dutzenden von kleinen Einzeldramen ergänzt worden, etwa wie Ramas Frau Sita in der Gefangenschaft immer wieder in Versuchung geführt wird, aber standhaft ihrem Prinzen treu bleibt. Die meist indonesischen Zuschauer sind mit ihren Kinder da, das Publikum geht lebhaft mit.
Unse Besuch in jenen Julitagen fällt in eine klare Mondnacht. Ab und an dröhnen startende Jets des nahegelegenen Flughafens über uns hinweg, so als sei die Affenarmee unter ihrem General Hanuman gerade nach Lanka unterwegs. Es tut dem Spiel keinen Abbruch.
Aus Indonesien erreichen uns oft Meldungen von fundamentalistischen Übergriffen, meist aus der Provinz Aceh im Norden Sumatras oder aus den großen Städten. Aber die Inselrepublik, die sich über mehr als 3000 km in West-Ost-Richtung erstreckt, ist ein diverses Land, mit vielen Ethnien und Kulturen.
Die Popularität des Ramayanas auf Java zeigt, dass die Javaner sich der kulturellen „Schichtungen“ ihrer Historie bewusst sind. Deren Metamorphose ist es, die Indonesien eine Chance bietet, auch die Moderne anzunehmen ohne dabei kulturelle Identität aufgeben zu müsen.
- Anmerkung: Der Youtube-Film zeigt eine Aufführung in Prambanan.