In diesen Tagen vor 62 Jahren war der Dalai Lama mit seiner Familie und einigen Begleitern auf der Flucht nach Indien. Am 31. März 1959 überschritt er die Grenze im Tawang-Distrikt, krank und erschöpft erreichte der damals 23-Jährige das Kloster gleichen Namens. Er konnte sich dort erholen und seine Reise durch das Kameng-Tal im Westen des Bundesstaates Arunachal Pradesh nach Tezpur fortsetzen. Von hier am Brahmaputra brachte ihn am 12. April ein Zug nach Delhi.
Ich war im November 2016 auf dem letzten Teil der Fluchtroute des Dalai Lama durch das Kameng-Tal unterwegs, nicht per Pferd oder Yak, sondern mit dem Auto. Sajid, mein Begleiter, und Tarabir, unser Fahrer (beide Mitte 20) hatten mich mittags am Flughafen von Gauwhati in Assam abgeholt. Wir fuhren südlich an der Stadt vorbei und erreichten die Brahmaputra-Brücke bei Tezpur in der Dunkelheit (Indien hat nur eine Zeitzone, so wird es in Assam schon gegen 17 Uhr dunkel). Von dort ging es nach Norden zum Grenzort Bhalukpong, wo ein Bungalow im Garten eines Resorts als Unterkunft diente. Nachts blies ein starker Fallwind von den Höhen des Himalayas durchs Tal und rüttelte an den Fenstern. Erst morgens konnte ich die gepflegte Anlage besichtigen.
Sajid drängte zum Aufbruch, unser Ziel war Dirang. Wir mussten noch tanken (in Assam günstig, hier liegt die älteste Erdölförderung der Welt) und unser Permit für Arunachal am Grenzposten abstempeln lassen. Ausländer dürfen nur mit einer Sondergenehmigung in diese Himalayaregion reisen, Sajids Büro hatte ein solches Permit für mich bereits besorgt. Arunachal Pradesh (=Land in dem die aufgehende Sonne die Berge bescheint) ist geopolitsch sensibles Gebiet. Es wird von der Volksrepublik China beansprucht und verzeichnet eine starke Präsenz des indischen Militärs. Wir machten noch einen kurzen Stopp im Orchideenforschungszentrum im Dorf Tippi, direkt am Kameng gelegen.
Mein größtes Problem war Bargeld: Wenige Tage zuvor hatte die indische Regierung die meist genutzte Banknote, die 100-Rupien-Note, für ungültig erklärt, um gegen Schwarzgeld vorzugehen. Und neue Banknoten waren in Geldautomaten nicht zu haben – genauer: es war überhaut an kein Bargeld zu kommen. Da nützen Kreditkarten oder Euro-Scheine wenig. Sajid beruhigte mich, alles sei prepaid und ein wenig Bargeld habe er noch dabei.

Im Tal des Kameng blühen große Büsche jener Pflanze, die wir bei uns in kleinen Töpfen als Weihnachtssterne an die winterlichen Fenster stellen. Deren leuchtendes Rot zwischen der grünen Ufervegetation und das blaugrüne Wasser des Kameng begleiten uns eine ganze Weile. Die Straße verlässt das Flusstal und windet sich die Berge empor, zuweilen ist sie eher ein Feldweg, den wir uns zudem noch mit Versorgungsfahrzeugen der indischen Armee teilen müssen.
Mittags erreichen wir die Kleinstadt Bomdila. Hier wurde im März 1959 der Dalai Lama von einem Gesandten der indischen Regierung empfangen. Heute ist Bomdila ein Zentrum buddhistischer Gelehrsamkeit, mit einem großen Kloster. Im Bazar parken wir, Sajid empfiehlt mir ein tibetisches Restaurant. Er als Muslim und Tarabir als Hindu bevorzugen eine andere Küche. Ich bestelle Momos gefüllt mit Schweinemett, serviert mit einer scharfen Chilisauce, und dazu eine Flasche Bier. Am Nachbartisch sitzt eine lokale Familie mit der gleichen Bestellung, man spürt: Wir sind in einem anderen Kulturraum. Im Bazar sehe ich Mönche aus dem Kloster.
Aber wir müssen weiter, um vor der Dunkelheit in Dirang zu sein. Jenseits von Bomdila führt uns die Straße wieder hinunter ins Kameng-Tag. Auf den bewaldeten Hängen gibt es Rodungsinseln. Hier wird auf kleinen Terrassen Reis, Weizen und Hirse angebaut.
Wir erreichen unser Domizil am Südrand der Stadt Dirang am späten Nachmittag. Von der Hitze des Subkontinents ist hier in 2000 Meter Höhe nichts mehr übrig. Vor dem Abendessen laufe ich mich ein wenig warm. Richtung Stadt treffe ich auf eine Gruppe von Schulkindern, die vom Unterricht nach Hause unterwegs sind (in Indien gibt es ausschließlich Ganzstagsschule). Sie zeigen mir stolz ihre Hefte.

Im kleinen Hotel sind nur wenige Gäste. Unter ihnen treffe ich eine 70-jährige Kalifornierin, die allein, nur mit ihrem Guide, die Dörfer der Umgebung für ethnologische Studien bereist und dazu um die halbe Welt gekommen ist. Wir sitzen in dicken Jacken im Speisesaal und freuen uns auf ein deftiges warmes Essen – wir werden nicht enttäuscht.
Im Zimmer gibt es keine Heizung, aber heißes Wasser zum Duschen. Dicke Decken halten mich nachts warm und am Fernseher kann ich über CNN den Schock der US-Präsidentenwahl mit erleben. Am Morgen wage ich mich auf den Balkon, es ist eisig, aber ich mache mir einen heißen Kaffee und genieße den Ausblick der aufgehenden Sonne über den Bergen des östlichen Himalaya.

Heute geht es auf den Se La (la = Pass), es wird eine Herausforderung für unseren Fahrer. Der aber ist ganz entspannt. Wundersamerweise funktioniert mein indisches Handy tadellos. So kann ich mit Freunden in Tamil Nadu, 3000 km weiter südlich telefonieren – für 1 Rupie (2,5 Eurocent) pro Minute. Bevor die Straße sich in Serpentinen zum über 4000 m hohen Pass hinauf schlängelt, halten wir in einem Dorf, wo Frauen Weizen träschen. Sie rufen sich Kommandos zu und schlagen rhytmisch mit Flegeln auf die Büschel ein. Wir passieren wieder indische Militärposten und erreichen mittags ein Tor, das uns zum Tawang-Distrikt willkommen heißt. Es markiert den Se La-Pass, ein Schild sagt, wir seien in 13700 Fuß Höhe, das sind 4175 Meter.
In der Sonne spürt man die Kälte nicht, umso mehr aber die dünne Luft. Mit Sajid spaziere ich runter zu einem See. Überall hängen Gebetsfahnen über der Straße. Man kann sich gut vorstellen, wie beschwerlich der Weg 1959 gewesen sein muss.
Zu lange wollen wir uns in der dünnen Luft nicht aufhalten, aber Zeit für einen süßen Tee und eine Tasse Instant Nooodle Soup muss sein. Am Tisch sitzen indische Touristen, unter ihnen eine Gruppe von Bikern aus dem Süden. Dann geht es zurück nach Dirang.
Am Abend sitzen wir wieder im Speisesaal und tauschen mit den anderen Gästen Erfahrungen aus. Die Dame aus Kalifornien will noch unbedingt zum jährlichen Hornbill Festival nach Nagaland. Das findet nahe Kohima immer Anfang Dezember statt und zu ihm treffen sich sämtliche Naga-Stämme – ein Traum für Ethnologen.
Früh am nächsten Tag machen wir uns auf, um vor Sonnenuntergang wieder am Brahmaputra zu sein. Gerade als wir die Höhenzüge bei Bomdila queren, hat die Sonne den Morgendunst vertrieben und gibt den Blick auf die 6000er des östlichen Himalaya frei. Jenseits liegt Tibet, welches der Dalai Lama 1959 verlassen musste und bis heute nicht wieder gesehen hat.