„If you leave me now“ – Chicago und eine Erinnerung

Chicago River am St. Patrick’s Day

Am St. Patrick’s Day (17. März) wird der Chicago River grün gefärbt, zu Ehren des irischen Nationalheiligen. Die Metropole am Lake Michigan ist aber nicht nur von Einwanderern aus Irland geprägt. Auch Italiener, Polen und Deutsche kamen nach Chicago. Viele arbeiteten in den Schlachthöfen, Chicago war nach dem Bürgerkrieg Zentrum der Fleischindustrie – und der Fluss trug zuweilen eine ganz andere Farbe, wie mir ein amerikanischer Professor erklärte.

St. Patrick, auch in Savannah

Aber Chicago ist auch die Stadt, in der Barack Obama seine politische Karriere begann, in der er seine Frau Michelle in einer Anwaltskanzlei kennen lernte und in der er seinen Wahlsieg von 2008 feierte. Ich frage Mary, unsere Begleiterin danach, aber sie will das nicht kommentieren. Als wir die Wabash Avenue nach Norden schauen, taucht in überdimensionalen Lettern an einem Gebäude mit glitzernden Fenstern der Name TRUMP auf. Eigentlich gäbe es in Chicago eine Regelung, die das verbiete, sagt Mary. Damals war der Namensinhaber noch nicht gewählt, aber politisch schon am antichambrieren. Der schwarze Präsident aus Chicago war ihm ein Dorn im Auge.

Blick vom Hancock Tower Richtung Norden auf den Lake Michigan

Ich hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit, beruflich für eine Woche in Chicago zu sein. Zwischen den Küstenmetropolen wird die mit knapp 3 Millionen Einwohnern drittgrößte Stadt der USA  in der Landesmitte kaum wahrgenommen. Grund genug also, einige Jahre später die Stadt am Lake Michigan zusammen mit meiner Frau noch einmal zu besuchen.

Mary von Chicago Greeter, einer Organisation, die Besucher kostenlos herum führt, empfängt uns im Gebäude des Chicago Cultural Center, Michigan Avenue/East Randolph Street. Sie ist eine drahtige und gebildete Frau, die sich das Leben in Downtown leisten kann – und es genießt, wie sie sagt. Wir hatten vereinbart, dass sie uns kulturelle Highlights zeigt. Und so wandern wir zur Skulptur „Untitled“ von Picasso (Washington Street/North Clark), von dort zum „Four Seasons„-Mosaik von Chagall (S Dearborn/W Monroe) und passieren das Palmer House Hilton in der S Wabash Street. Die Züge des Loop donnern über dem Haupteingang und die Lobby erinnert an Zeiten, als hier Frank Sinatra, Judy Garland oder Louis Armstrong aus- und eingingen.

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Wir gelangen schließlich zurück zur Michigan Avenue, wo sich eine lange Besucherschlange vor dem Art Institute of Chicago gebildet hat. Mary besitzt eine Dauerkarte und so schleust sie uns den Wartenden entlang durch die wichtigsten Räume des Museums – tatsächlich Weltniveau. Mir fallen vor allem die Bronzen aus der Cholazeit in Südindien ins Auge. Vom Nordausgang gelangt man über eine Fußgängerbrücke in den Millennium Park. Mary schwärmt über die gerade zu Ende gegangenen Sommerkonzerte der Chicago Symphoniker, die im Jay Pritzker Pavillion gegeben werden. Die Skyline der Wolkenkratzer, einige von Bauhaus-Architekten entworfen, ist beeindruckend. Dann stehen wir vor „The Cloud Gate“ von Anish Kapoor, einer silbern spiegelnden „Wolke“, in welcher die Besucher umher wandern können. Im nahegelegenen Crown Fountain sprudelt nicht nur Wasser, eine Videoinstallation zeigt sich langsam verwandelnde Gesichter – von beliebigen Einwohnern Chicagos.

Jay Pritzker Pavillion, Openair-Konzerthaus

Nach Mittag fahren wir mit der Red Line der U-Bahn von Millennium bis Chicago, gehen über die E Chicago Street zurück zur N Michigan Avenue. An der Ecke steht der Water Tower, der den Brand von 1871 überstanden hat. Der Rest des damaligen Chicago wurde Opfer jenes großen Brandes, der 300 Menschenleben kostete und 100.000 Einwohnern ihre Dach überm Kopf. Nur einen Block weiter steht der Hancock Tower, von dessen Aussichtscafe man einen fantastischen Blick über die Shoreline des Lake Michigan und Downtown hat.

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Chicago ist eine Stadt der Brücken. An die 20 queren den Chicago River in der Innenstadt. Überhaupt, so unser gedruckter Reiseführer, solle man sich Chicago vom Boot aus ansehen. Er gibt auch gleich einen guten Tipp, um die teuren geführten Bootstouren zu umgehen: einfach mit einem Wassertaxi die Strecke abfahren. So nehmen wir die U-Bahn bis Chinatown, spazieren durch die sterile Laden- und Kneipenzone bis zum Ping Tom Memorial Park, in dem die Anlegestelle „Chinatown“ liegt

 

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Und tatsächlich kommt schon bald ein gelbes Boot mit der Aufschrift „Chicago Watertaxi“. Es nimmt uns mit bis zum Michigan Avenue Fährterminal. Wir passieren den Sears Tower und die Rückseite der Chicago Mercantile Exchange, der wichtigsten Warenterminbörse der Welt. In den Fenstern der Gebäude entlang des Flusses spiegelt sich jeweils die Gegenseite, man fährt wir durch einen Glas-Canyon.

Unser gelbes Boot wird ausschließlich von einer Frauencrew gesteuert, die geschickt die verschiedenen Landungsbrücken ansteuert. Kurz vor Ende unserer Fahrt passierten wir die beiden Marina Towers. Es sind ikonische Wohntürme, die Chicagos Ruf als Mekka für Architekten mitbegründeten. Und es gibt sie schon über 60 Jahre: Für mich haben diese Türme das Bild von Chicago geprägt, denn ihr Foto schmückte mein Erdkundebuch der 7. Klasse. Als Quartaner und groß geworden in einem Dorf mit nur einem Dutzend Fachwerkhäusern hatte ich mich immer gewundert, wie wohl die Autos in die unteren Stockwerke dieser runden „Maiskolben“ kamen und beim Einparken nicht in den Fluss fallen.

Ein Rätsel zu lösen kann manchmal Jahrzehnte dauern.

Marina Towers. Wohntürme am Chicago River