Auf der Stromleitung wartet ein Eisvogel auf Beute. Ein Schmetterling lässt sich auf einem Blatt vor uns nieder. In einem Baum am Abhang hat sich eine Kolonie Webervögel etabliert. Wasservögel und Ziegenherden begleiten uns an diesem milden Januarmorgen auf der Wanderung rund um einen Stausee am Abhang der Berge in Südindien. Er fängt das Wasser des Monsuns auf und leitet es nach Dindigul weiter. Normalerweise ist es hier immer knapp unter 40 Grad, aber heute genießen wir ein europäisch-sommerliches Klima. Kokospalmen wechseln mit Reisfeldern ab. Unter einem Baum haben Dorfbewohner einen archaischen Tempel mit Götterfiguren aufgebaut, im Termitenhügel werden wohl auch Schlangen verehrt. Peter läuft vor uns her und klopft mit einem Stock das Gebüsch vor uns ab. Man wisse nie, für Kobras sei dies eine ideales Habitat.
Wir und die anderen in unserer Gruppe sind Gäste im Lakeside Resort, welches sich Peter und Dorinda aus England erworben haben. Sie wollten raus aus dem Alltagstrott, wir auch, aber nur auf Zeit. Mit Mitte 50 hingegen wagten die beiden Briten nochmals was völlig Neues. Der entlegene Ort in Tamil Nadu, wunderschön gelegen zwischen See und Bergen, war für sie ein Lebenstraum, den sie sich einige Jahre vor unserem Besuch erfüllt hatten. Auf einer flach abfallenden Fläche gruppieren sich kleine Bungalows zwischen Bäumen und blühenden Büschen. Mittendrin hat Peter einen Swimmingpool angelegt, den er jeden Morgen sorgfältig reinigt. Im Zentrum der Anlage steht das Haupthaus, mit Rezeption, Lounge und Dining Area. Wir aber nehmen jeden Abend das Dinner unterm Sternenhimmel auf dem Dach ein.
Vor dem Haupthaus liegt ein kreisrunder Brunnen, zwei Pfauen durchstreifen graziös das Gelände, auf der Jagd nach Kriechtieren. Dorinda hat sich ein Pferd zugelegt, mit dem sie ab und an am See ausreitet. Peter hat seinen Hund. Außer dem Geräusch von Insekten und Vögeln hört man hier, weitab vom nächsten Dorf, nichts. In Indien ist das etwas extrem kostbares.
Dorinda beaufsichtigt das Personal, vom Zimmermädchen bis zum Küchenpersonal. Kennedy, der Generalmanager, läutet kurz nach Sonnenuntergang eine Glocke. Dann kommen die Gäste aus den Bungalows auf das Dach und gruppieren sich um die gedeckten Tische. Auf dem Weg kroch uns eines Abends in der Dämmerung ein schlängelndes Etwas über den Weg. Peter suchte unseren Schreck zu lindern: „You were so lucky to see a snake!“ Kennedy gibt dann die Menüreihenfolge bekannt, ein wenig wie bei „Dinner for One“. Nur das der Tiger nicht als Fell im Zimmer liegt, sondern vielleicht draußen umherstreift. Heute gibt es unter anderem einen „Three Bean Salad“, was uns alle zum Lachen bringt: ein Salad aus drei Bohnen? Wir trinken kühles Bier, das so heißt wie der Eisvogel (Kingfisher), und nach dem Caramel Custard noch ein Glas Whiskey oder Rum. Britischer geht es hier im südasiatischen Nirgendwo nicht mehr.
Aber diese Idylle ist hart erarbeitet. Beide waren zuvor nie in Indien, wenngleich Dorinda indisches Blut eines Vorfahren in den Adern hat. In England waren die Kinder schon aus dem Haus, warum also nicht ein Abenteuer wagen? Die Anlage, die sie erworben hatten, musste von Grund auf renoviert und auf unsere Standards gebracht werden. Wer jemals in Indien gelebt hat, weiß was dahinter steckt. Von den behördlichen Auflagen ganz abgesehen. Für eine Fernsehserie „Unsere Auswanderer“ wäre das hier eine goldene Story. Stromanschluss, Telefon (und die Gäste erwarten hier im Nirgednwo Internet!), Wasserversorgung, Lizenzen für Alkoholausschank etc. Dazu Material, Geräte, Importgenehmigungen, die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die beiden haben eine irre Menge an Energie und Geld in ihren Traum gesteckt, sie arbeiten täglich von Sonnenauf- bis lange nach Sonnenuntergang. Wir als Gäste profitieren davon.
Dorinda bietet ein Ausflugsprogramm in die Dörfer der Umgebung an. Wir besuchen eine Dorfschule, eine Sari-Weberei und eine Fabrik zur Verarbeitung von Kokosfasern. Sie betreut hier auch kleinere Projekte dörflicher Entwicklung.
Ich frage Peter, ob alles so gekommen ist, wie er es sich vorgestellt hatte. Hätte er geahnt, was auf ihn zukommt, er hätte es vielleicht nicht gemacht. Aber das zeichnet ihn und seine Landsleute aus: der Mut, sich in wahrlich fremder Umgebung auf etwas Neues einzulassen, auf Herausforderungen, die dann nicht ab- sondern eher zunehmen. Diese britische Tradition, sich irgendwo auf der Welt, vorzüglich im Empire, zu bewähren, hat einst das Land groß gemacht – zumindest solang Kolonialismus „funktionierte“. Großbritannien hat seine Sprache und Kultur von Belize bis Borneo verbreitet und kann darauf heute sein „Global Britain“ im Commonwealth erträumen. Peter und Dorinda verdienten unsere volle Bewunderung, lange bevor sich der Kleinbürger vom Brexit neue Größe erhoffte.
