Als wir kurz nach der Brexitabstimmung die Falls Road in Belfast entlang gingen, fiel mir ein junger Mann in Jeans und T-Shirt auf, der uns entgegen kam. Er grüßte unseren Begleiter mit hoch erhobener Faust – ein klares Symbol für Kampfeswillen hier im Westen von Belfast.
Es hat mich seitdem gewundert, mit welcher Unbedarftheit die Nordirland-Frage bei den Brexitverhandlungen angegangen wurde. Für die Mehrheit der Nordiren ist es eine existentielle Frage, ob die Grenze zur Republik offen ist (wie es durch das Karfreitagsabkommen von 1998 garantiert wurde) oder ob es eine Zollgrenze zum britischen „Mainland“ gibt, wenn das Vereinigte Königreich die EU und den Gemeinsamen Markt verlässt. Eigentlich eine selten klare Alternative: entweder eine Grenze zur Republik mit Zollposten rund um die Provinz, oder eine Zollgrenze im Hafen von Belfast und allen anderen, über die Waren aus Großbritannien geliefert werden. So formuliert es auch Simon Jenkins heute im GUARDIAN.
Man kann daraus nur ableiten, dass die Provinz im Nordosten der Insel Irland von London nicht ernst genommen wurde und wird, wie eh und je. Die Unionisten (also die, welche für Zugehörigkeit zu Großbritannien stehen) waren unter Premierministerin May in Westminster Zünglein an der Waage, weil sie der Lösung, die ihr Nachfolger ihnen später aufzwang zunächst nicht zustimmten. Mit jenem Nordirland-Protokoll wurde dann geregelt – mit Übergangsfristen und kleineren Ausnahmen – wie diese Zollgrenze in der Irischen See zu handhaben ist.
Nun bleiben Regale in den Supermärkten Nordirlands zuweilen leer, weil die operativen Details zur Zollkontrolle in den Häfen noch nicht funktionieren. Und wenn die Unionisten gehofft hatten, es werde wohl so schlimm nicht kommen und der wuschelkopfige Premier werde mit seinem Charme letzendlich die EU überreden, jetzt nicht so genau hinzuschauen, dann haben sich alle, in Belfast und in London, über Brüssel getäuscht und unterschätzt, wie wichtig der EU der Binnenmarkt ist und wie wichtig für das EU-Mitglied Irland die offene Grenze zum Norden ist.
Es gibt in NI auch ohne Brexit jede Menge ungelöster Probleme: Peace Walls trennen von Katholiken und Protestanten bewohnte Stadtteile in Belfast und Derry, Armut und Arbeitslosigkeit sind unter den Bevölkerungsgruppen ungleich verteilt und die Corona-Pandemie hat das Ganze noch verschärft. Dazu kommen andere Diskriminierung wie Sprache, Wohnungsbau und Infrastruktur.
Jenkins schlägt vor, die Nordiren über die Zollgrenze abstimmen zu lassen. Das haben sie eigentlich mit dem Brexit-Votum schon getan: Wie in Schottland war eine Mehrheit gegen den Austritt aus der EU.
London und Brüssel, Dublin und Belfast haben bei den Brexit-Verhandlungen das am 10. April 1998 geschlossene sogenannte Karfreitagsabkommen für unantastbar erklärt, zum Glück. Denn es beendete nach Jahrzehnten den Bürgerkrieg in Nordirland und wurde mit tatkräftiger Hilfe der Amerikaner abgeschlossen. In den USA sind die irischen Einwanderer eine formidable Kraft und der neue Präsident Biden betont seine irische Abstammung.
Das Agreement legt u.a. fest, dass die Unterzeichner
(i) recognise the legitimacy of whatever choice is freely exercised by a majority of the people of Northern Ireland with regard to its status, whether they prefer to continue to support the Union with Great Britain or a sovereign united Ireland;
(ii) recognise that it is for the people of the island of Ireland alone, by agreement between the two parts respectively and without external impediment, to exercise their right of self-determination on the basis of consent, freely and concurrently given, North and South, to bring about a united Ireland, if that is their wish, accepting that this right must be achieved and exercised with and subject to the agreement and consent of a majority of the people of Northern Ireland;
Biden hat schon früher die Regierung in London gewarnt, dass Abkommen nicht zu gefährden. Einige Gruppen auf unionistischer Seite drohten aber schon damit, es aufzukündigen, sollte es eine markante Zollgrenze in der Irischen See geben. Der Text von 1998 aber lässt keinen Zweifel, dass die Nordiren über den Status der Provinz abstimmen können. Der Fall könnte schneller kommen, als manche erwartet hatten.
Es wäre eine historische Ironie, wenn das eine Plebiszit (das Votum zum Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU) nun ein zweites (oder sogar ein drittes in Edinburgh) auslösen würde, mit dem sich das UK selbst zerlegt, besser noch: Irland wiedervereinigt würde. Alle Argumente bzw. Warnungen dazu wurden von den Brexit-Befürwortern beiseite geschoben. In großen Teilen Englands war man blind für die Gefühle der anderen „nationes“ der Union.
Nächste Woche ist St. Patrick’s Day. Der Heilige stammte aus Britannien und missionierte im 5. Jahrhundert die Insel westlich der Irischen See. Er hätte heute wieder eine Mission.
Informationen:
„Reunification debate looms largely as NI nears centenary“. ALjazeera.com, 9 March 2021
Krawalle in Belfast. Tagesschau.de 8. April 2021
White House expresses Concern over Violence in Northern Ireland. THE GUARDIA Nonline, 8 April 20021