Ohne Schule, ohne Chance

Über die Bedeutung von Schulbildung für Fortschritt und Emanzipation einer Gesellschaft ist längst alles gesagt. Fehlende Bildungschancen sind das größte Handicap für soziale und individuelle Entwicklung. Das gilt erst recht für Mädchen und junge Frauen, überall auf der Welt, aber insbesondere in eher traditionellen Gesellschaften. Hier wurde der Hälfte der Gesellschaft der Zugang zu Bildung erschwert oder unmöglich gemacht.

Dennoch, es gibt erhebliche Fortschritte. Am Bespiel Südasiens lässt sich das leicht demonstrieren: Wo das Bildungsniveau am höchsten ist, funktioniert auch die Kooperation der Gesellschaft bei der Bewältigung der Coronapandemie am besten. Schulbildung für Mädchen hat noch einen weiteren Aspekt: Sie stärkt ihre Stellung in Familie und Gesellschaft und ermöglicht eine kluge und angepasste Familienpolitik. Ich habe für die Vereinten Nationen im entwicklungspolitischen Bereich in Bangladesh gearbeitet und mehr als 30 Jahre lang Kleinstprojekte zur Förderung von Mädchen und Frauen in Tamil Nadu betreut.

Aber die Pandemie hat diese Benachteiligung, mehr noch die Folgen von derzeit ausgesetzter formaler Bildung bloß gelegt: UNICEF schätzt, dass rund 168 Millionen Kinder weltweit ein ganzes Jahr komplett ohne Schulunterricht auskommen mussten. Eine dreiviertel Milliarde Kinder und Jugendliche sind von Schulunterbrechungen betroffen (UN Women Gender Monitor). Wer etwas von Entwicklungspsychologie versteht, wird begreifen, welche langfristigen Auswirkungen dies auf Gesellschaft und Wirtschaft haben wird.

Die drei Mädchen aus Dörfern im südindischen Tamil Nadu wurden bei einem Schulprojekt befragt, was ihre Berufsvorstellungen sind. Sie hatten damals in Aufsatzform in ihrer Muttersprache Tamil formuliert, was ihnen wichtig ist.

In die öffentliche Verwaltung eintreten (wozu in Indien strenge Aufnahmebedingungen herrschen), um Gutes für die regionale Entwicklung zu tun oder Ärztin werden, um im nationalen Gesundheitsdienst zu helfen, sind einige der zitierten Beispiele. Die Mädchen konnten ihre Erwartungen an die Gesellschaft Indiens und ihrer Dörfer sehr gut verbinden mit ihren persönlichen „Karriere“-Vorstellungen.

Es ist eine Tragik, dass die Pandemie dies für viele Kinder weltweit unterbrochen hat. Ich fürchte, für Kinder ist es nicht etwa eine nette „Auszeit“ im ansonsten ganz schön stressigen Leben. Vielmehr wird es als mehr oder weniger traumatische Erfahrung wahrgenommen, in der persönlicher Einsatz und Leistungswillen in der Schule plötzlich obsolet sind, und damit alle Träume zur Zukunftsgestaltung zu Ende. In unseren Medien wird dies nur wenig thematisiert, dafür umso mehr, wie vereinsamend Home Office oder wie wichtig der Schutz von alten Menschen ist. Letzteres zweifellos, aber denjenigen, denen die Zukunft gehört (und denen wir diesen Planeten überlassen) verdienen ein mindestens ebenso starkes Gehör.

Wenn alle Impfungen gesetzt sind, bleiben immer noch die Wunden bei jungen Menschen, denen das Virus nichts anhaben konnte, aber deren Lebensweg schon im frühen Stadium zerstört wurde.

Schulklasse im Westen Nepals