
Wer Vishnu sucht, der muss sieben Tore durchschreiten. So gelangt der Pilger und Betende an einen Avatar der Gottheit im Tempel von Srirangam. Sogar auf dem Satelittenbild ist er zu erkennen: der größte Tempel Indiens. Er liegt auf einer Insel im Kaveri-Fluss, bei Tiruchirapalli in Tamil Nadu. Sieben rechteckige Ummauerungen (prakarams) sind ineinander verschachtelt. Die ganz Anlage ist knapp 1 km lang und gut 800 m breit.
Während die bauliche Geschichte des Tempelkomplexes in die Zeit der Chola-Dynastie im 10. Jahrhundert zurück reicht, wurde der größte, fast 100 m hohe Torturm (gopuram) im Süden der äußersten Ummauerung erst 1987 vollendet (während meiner Zeit in Tamil Nadu von 1983 bis 1986 habe ich die Bauarbeiten noch verfolgen können). Die gopurams werden zum Allerheiligsten hin sukzessive immer niedriger.
Zeit ist in Indien relativ, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen in jenem Tempel. Er ist dem Gott Vishnu gewidmet, der hier als Raganatha, friedlich auf der siebenköpfigen Schlange Adisesha ruhend, verehrt wird. Die Figur ist im innersten Geviert im Erdboden verankert und nur für Hindus zugänglich. Wer vom Tempel-Guide auf eines der Dächer der äußeren mandapams (Säulenhallen) geführt wird, kann das Allerheiligste an einem goldenen Dach erkennen, nicht vergoldet, sondern massiv.
Die Legende will es, dass ein gewisser Vibishana eine Figur des Raganatha vom Prinzen Rama nach dessen Krönung in Ayodhya geschenkt bekam. Vibishana hatte Rama bei der Befreiung seiner Frau Sita aus den Fängen Ravannas, des dämonischen Herrschers von Lanka, geholfen. Er war dessen jüngerer Bruder und wurde später für seine Hilfe mit der Königskrone von Lanka belohnt. Auf dem Rückweg von Ayodhya in seine Heimat machte er Rast auf der Insel im Kaveri und legte trotz ausdrücklichen Verbots von Rama die Götterfigur zur Seite. Die, so lautetet die Warnung, werde sich dann unlöslich mit der Erde verbinden. So geschah es und soweit die Gründungslegende des Tempels.
Der Besucher nähert sich dem Tempelkomplex von Süden her. Die ersten zwei mit bunten Figuren geschmückten Tortürme durchquert man noch per Taxi. Ab dem vierten Torturm geht es nur noch barfuß weiter: Die Schuhe müssen am Zugang deponiert werden. Das kann an heißen Tagen – und hier an der Kaveri ist es immer heiß – zu einer Übung ähnlich dem Gang auf glühenden Kohlen führen. Immerhin, Schatten wird durch Zeltplanen gespendet und zuweilen liegen auch Kokosfasermatten auf den Gehwegen.
Auf dem Weg zur ersten großen Säulenhalle gibt es Andenkenläden und solche für Haushaltsgegenstände aus Messing und Gusseisen. Im Mandapan selbst steht der Tempelelefant. Wer will, kann sich segnen lassen. Der Elefant legt dann den Rüssel sanft auf den Kopf des Gläubingen – sein Beschützer erwartet aber auch eine kleine Gabe (man kann sie dem Tier in den Rüssel geben).
Aber mit dem fünften Torturm endet der Zugang für Nicht-Hindus. Der Besucher hat aber bis dahin schon eine Unmenge Altäre, Malereien und Seitenkapellen gesehen, alles durchströmt vom Duft der brennenden Lämpchen.
Wer den Tempel „für sich“ haben will, sollte dem fünften prakaram außen folgen. Er lässt sich komplett umrunden. Auf der westlichen Seite gibt es einen kleinen Park. An der Nordseite sind Säulenhallen und Tore miteinander verschachtelt und öffnen sich zu kleinen Plätzen und Passagen. An der Ostseite passiert man dann die 1000-Säulen-Halle (es sind wohl „nur“ 953) und den weißen Gopuram – beides architektonische und kunstgeschichtliche Wunder. Aus Granit sind einige der Säulen als gewaltige Pferde gemeißelt.

Man sollte sich Zeit lassen für den Tempel von Srirangam. Ich habe ihn zu allen Tageszeiten besucht, vormittags ist es ruhiger. Abends kann man zuweilen eine Prozession, begleitet von Trommeln, Bläsern und Böllerschüssen beobachten. Der Tempelelefant führt die Prozession an, eine goldene Nachbildung des Raganatha wird dann um den vierten Prakaram getragen.
Aber kein indisches Heiligtum ist denkbar, ohne ein heiliges Bad, sei es im Tempelteich selbst oder wie in Srirangam im heiligen Fluss. Ein guter Kilometer südlich liegt ein solches Bade-Ghat (ghat = Treppenstufen). Meist ist die Kaveri bei Trichy (Kurzform von Tiruchirapalli) ausgetrocknet, das gewaltige Flussbett wirkt dann wie eine Wüste. Aber im August werden die Dämme am Oberlauf geöffnet, damit die Reisbauern im Kaveri-Delta ihre Felder bestellen können. Das Delta ist die Reiskammer Südindiens. Wasser ist dann buchstäblich Leben und in jedem Fall Segen.
Vishnu steht für den Erhalt des Lebens. Seine Inkarnationen im Lauf der Geschichte haben das Schicksal der Welt zum Guten gelenkt. Für viele Hindus ist der Tempel von Srirangam ein ganzer Kosmos. Als Besucher kann man sich in ihm tatsächlich vollkommen verlieren.
Webseite des Sri Ranganathaswamy Tempels von Srirangam
Literatur:
Anantharaman, Ambujam: Temples of South India. 2nd Edition. Chennai 2006, pp. 150-159