Indien hat rund 1,4 Milliarden Einwohner, ist fächenmäßig etwas 10-mal so groß wie Deutschland und spricht 22 offizielle Sprachen (und Schriften) zusätzlich zur Amtssprache Englisch. Drei Dutzend Bundesstaaten und Territorien bilden ein Gegengewicht zur Unionsregierung in Delhi. Indien hat – ähnlich wie Deutschland – eine föderale Verfassung. In Zeiten einer Pandemie also nicht gerade einfache administrative Bedingungen, um den Herausforderungen zu begegnen.

Mit Beginn der Pandemie im April stiegen auch in Indien die Fallzahlen von Coronavirus rapide an. Die einzelnen Bundesstaaten und die Regierung in Delhi reagierten schnell und dramatisch mit einem Lockdown, der innerhalb von Stunden hunderte Millionen Migranten, die als Tagelöhner in Haushalten, Gewerbe und Industrie beschäftigt sind, buchstäblich vor die Tür setzte. In der Gluthitze des April spielten sich auf Straßen und Bahnhöfen erschütternde Szenen von Rückkehrenden ab. Man hatte das Gefühl, die politisch einflussreiche indische Mittelschicht will der Welt beweisen: Wir haben das Heft in der Hand – soziale Rücksicht können wir uns in einer solchen Gefahrenlage für das Land nicht leisten. Das allerdings sind die Armen in Indien gewohnt.
Als Instrument gegen Covid war dies nicht sehr erfolgreich, denn die Zahlen nahmen bis Ende September weiter zu. Aber auf bundesstaatlicher Ebene waren die Maßnahmen durchaus differenziert: Kerala im Süden, mit dem besten Gesundheitssystem in Indien, war erfolgreich, im besonders betroffenen stark urbanisierten und industrialisierten Maharashtra mögen die Lockdowns geholfen haben. Wie dem auch sei, mit dem Beginn des „Winters“ (in Teilen Indiens ein relativer Begriff) sanken die Fallzahlen kontinuierlich. Dies trotz der vielen Festivals allenthalben, Mehlas im Norden, Diwali im ganzen Land, Onam oder Pongal regional in Kerala und Tamil Nadu sowie Durga Puja in Bengalen und im Nordosten – um nur einige zu nennen. So wurden schon im Dezember einige Lockerungen eingeführt, die Lockdowns auf Hotspots begrenzt.
Inzwischen kehrt Indien zu einem fast normalen Alltag zurück. „A dramatic drop in Covid cases gives India hope of return to normal life“ schreibt der britische GUARDIAN am 28. Januar 2021.
Update 25.3.2021: Bei dieser Pandemie den Tag nicht vor dem Abend loben …
Die Ursachen für diesen überraschenden Trend sind vielfältig: Laut Webseite des MoHFW sind 70 % der Todesfälle auf Co-Morbidität zurück zu führen. Ein Drittel aller Todesfälle in Indien gab es allein im Bundesstaat Maharashtra. Der wirtschaftliche Wohlstand großer Bevölkerunsgkreise hat zu den typischen zivilisatorischen Begleiteffekten geführt: Übergewicht und Diabetes. Zudem ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Indien (mit knapp 70 Jahren) geringer als bei uns, die Bevölkerung ist sehr jung – fast 30 %, das entspricht der Bevölkerung der EU, sind jünger als 15 Jahre! In Indien gibt es verschwindend wenige Altenheime, bei uns für 50 % aller Todesfälle verantwortlich.
Der GUARDIAN zitiert den Virologen Shahid Jameel: „Alle Daten und Modelle deuten darauf hin, dass eine ausreichende Anzahl von Menschen in Indien dem Virus ausgesetzt war. Dies ist die einzig logische Erklärung dafür, dass Indien trotz der geringen Einhaltung von Masken und der physischen Distanzierung – letztere ist in dichten Städten nicht möglich – nach der Festivalzeit im Oktober und November keinen Anstieg verzeichnete. Dies ist zusammen mit einer besseren angeborenen Immunität infolge der hohen Belastung durch Infektionskrankheiten höchstwahrscheinlich der Grund für einen anhaltenden Rückgang der Zahlen.“
Noch sind dies alles Hypothesen. Und fast schon reflexartig werden bei uns im Westen auch die Zahlen angezweifelt. Indien hat derzeit weniger Neuinfektionen als Deutschland, es testet täglich eine dreiviertel Million Menschen und hat ein ambitioniertes Impfprogramm begonnen. Hilfreich dabei ist, dass eine der weltweit größten Produktionsstätten für Impfserum (hier die AstraZeneca-Variante) im indischen Pune liegt und das Land seinen Impfbedarf aus eigener Produktion komplett decken und den Nachbarländern zudem helfen kann („Impfdiplomatie“).
Man kann es Indien und seiner Bevölkerung nur wünschen, dass jenes neuartige Coronavirus sich auf dem Subkontinent die Zähne ausbeißt. Ein einziges Mal wäre dann die Resilienz der Menschen zwischen Kaschmir und Kanyakumari ein medizinischer und gesellschaftlicher Vorteil gegenüber uns, den sie so oft herbei wünschen.

Weitere Informationen:
Webseite des indischen Gesundheitsministeriums (MoHFW) zu Covid
Complacency in India …. New York Times, 10 April 2021
We are not special. The Guardian online 29 April 2021
Johns Hopkins data, 29 April2021: