Wenigstens die Umwelt hat sich verbessert, sagen viele über die Pandemie. Deutschand hat sogar das Klimaziel 2020 erreicht, dank dem Coronavirus. Und die Luft in den Metropolen der Entwicklungsländer ist besser geworden, wie ja „vorher/nachher“-Fotos beweisen.
Angesichts der düsteren Aussichten für die Zukunft klammern wir uns an jeden Strohhalm. Gesunde Umwelt geht immer. Wir sind ja keine indischen Wanderarbeiter und Tagelöhner, die jetzt zu 100 bis 200 Millionen fernab der Städte die gesunde Landluft in Armut genießen können. Wir gehören nicht zu den Angestellten von Hotels in Bali, Sri Lanka oder Kenia, die seit einem Jahr keine Arbeit haben, aber sicher froh sind über den geringeren CO2-Ausstoß in der Luft. Auch sie, wie nahezu alle im Tourismussektor mit Zeitverträgen oder informell beschäftigt, zählen in die Hunderte von Millionen weltweit.
Wir sehen die Arbeitslosenzahlen in den USA, die Leute, die aus ihren Mietwohnungen geworfen werden, die Autoschlangen (!) vor Foodbanks, die Aktionen eines britischen Fußball-Stars (Marcus Rushford von ManU), der die Regierung dazu zwingt, kostenlose Mahlzeiten an arme Schüler während der geschlossenen Schulen zuzubereiten. Unsere Medien berichten, gut so. Aber was sich im Rest der Welt (das ist mindestens die Hälfte der Menschheit) abspielt, nehmen wir nicht wahr – und können es auch nicht, wenn uns keiner darüber berichtet.
Heute veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Beitrag über die Auswirkungen der Pandemie auf Armut in der Welt (Wachsende globale Armut. sueddeutsche.de, 25.1.2021). Es bleibt wohl NGOs überlassen, uns darüber zu informieren, was wir eben nicht sehen können. Wir schauen auf Infektionszahlen und Impfungen bei uns, allenfalls noch in der EU. Unser größtes Problem ist das Masketragen und die Bewältigung von Home Office. Schlimm, auf den Gang zum Lieblings-Italiener verzichten zu müssen. Der Rest entzieht sich unserer Wahrnehmung.
Der in der Süddeutschen zitierte Bericht von Oxfam beleuchtet auch die Auswirkungen von geschlossenen Schule in Ländern der Dritten Welt. Hier gibt es kein Fernlernen und die Eltern arbeiten nicht im Home Office. Unterricht und Examina fallen zum Teil ersatzlos aus. Diese Katastrophe gilt allerdings weltweit, von Grundschule bis zu Universitätsexamen. Was das bedeutet, ist nicht einmal absehbar, geschweige denn materiell abschätzbar. Und das ein Großteil des Impfstoffes weltweit von einem Dutzend reicher Länder gesichert wird, nun ja, ein Achselzucken. Wir müssen ja auch an uns denken.
Wer also der Pademie „dankbar“ ist für die Verbesserung der Umweltindikatoren, wer das Recht auf freien Zugang zur Eckneipe oder zum Stadion fordert, der sollte einmal innehalten und daran denken, dass es Auswirkungen der Pandemie gibt, bei denen unser „Lockdown“ wie ein Kinderspiel aussieht.
Oxfam report on poverty. CNN.com 24 January 2021
ILO warns of lost lockdown generation. Aljazeera.com 25 Jan. 2021