Irgendein Städtchen in Süddakota beansprucht für sich, geographischer Mittelpunkt der USA zu sein: gleich weit entfernt von Atlantik und Pazifik, von Hudson Bay und Golf von Mexiko. Der Staat selbst ist ein Viereck zwischen den Black Hills (eine Art US-Schwarzwald) und den Prärien und Maisfeldern bis nach Minnesota. Der Interstate 90 von Boston nach Seattle quert Süddakota von Ost
nach West. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sind Wall Drug im Dörfchen Wall (das ganze Dorf ist ein riesiger Drug Store), Mount Rushmore mit den in Fels gemeißelten Präsidentenporträts, der Badlands Nationalpark und der Corn Palace („The World’s only„) im Örtchen Mitchell. Von Außen und Innen ist die Stadthalle des 15.000 Einwohner Ortes mit Maiskolben dekoriert. Wow! In der Haupstadt SD’s wurden zwei Bruchstücke der Berliner Mauer installiert, die an den Sieg über den Kommunismus erinneren sollen. Süddakota ist im Herzen patriotisch, es wählt traditionell republikanisch.
Die Coronavirus-Pandemie wurde lange Zeit ignoriert. Die Menschen in Süddakota glaubten ihrem Präsidenten: Alles sei nur ein Schwindel (zwei Drittel wählten im November 2020 Donald Trump). Auch die Gouverneurin hielt es nicht für nötig, eine Maskenpflicht anzuordnen. Als in New York und Louisiana Tausende starben, lebte es sich nördlich der I 90 wie auf einem anderen Planeten. So wurde im August die Sturgis Motorcycle Rally durchgeführt. Dazu kommen hundertausende Biker in das kleine Nest nördlich von Rapid City. Es wurde ein Superspreader Event, wie vorausgesagt.
In einer eindrucksvollen Reportage hat die Washington Post heute (10.12.2020) dokumentiert, wie die Pandemie die Kleinstadt Mitchell, die mit dem Corn Palace, heimsuchte. Süddakota und der nördliche Nachbar haben die höchsten Infektions- und Todeszahlen pro Einwohner in ganz Nordamerika. Gottvertrauen hat in den Maisfeldern nicht geholfen, Ignoranz von Experten und Wissenschaft hat vermeidbares Unheil angerichtet. Eine Krankenschwester berichtete via Facebook, dass Patienten in ihrem Provinzkrankenhaus noch Minuten vor ihrem Tod an der Krankheit zweifelten.
Im September 2014 sah das ganz anders aus: Auf einer Reise in den Mittleren Westen saßen wir beim „Frühstück“ in einem fensterlosen Raum eines ansonsten gehobenen Hotels in Rapid City. Die Gäste bereiteten ihre Pancakes aus Fertigpackungen selber zu, an einer Wand war das Buffet aufgebaut, aus dem sich große Mengen von Plastikabfall ergaben: Plastikgeschirr und Styroporbecher. Oben in einer Ecke lief der Fernseher. Er berichtete von Ebola, einer Krankheit aus Afrika, die nun amerikanischen Boden zu erreichen drohte. Still und ansgtvoll aßen die Leute ihr Frühstück. Man konnte die Furcht in ihren Augen erkennen.
Nun ist es ein weiter Weg von den Urwäldern Westafrikas bis in die Prärien Süddakotas. Aber hatte man nicht einen schwarzen Präsidenten? Und lauerten nicht Gefahren überall? Terroristen bedrohen brave Bürger, Menschen aus anderen Kulturen leben unter uns und verbieten uns Weihnachten. MAGA und „USA, USA“ wurden in den folgenden Jahren zur Beschwörungsformel. Hatten sich nicht die besserwissenden Eliten aus den Küstenstaaten gegen die unbescholtenen Bürger des Mittleren Westens verschoren? Fly-over country, deplorables? Der Mann aus dem Trump Tower in Manhattan, der sagte es wie es ist: „Wir werden verschaukelt“!
Man könnte Mitleid haben mit den guten Menschen von Mitchell und Süddakota. Aber grenzenlose Ignoranz im reichsten Land der Welt, mit Zugang zu Bildung und Informationen wie kaum sonstwo, macht das schwer. Bleibt eigentlich nur ein Kopfschütteln