Die Zeitmaschine von Schöningen

Als der Zeitreisende in H.G. Wells‘ Roman The Time Machine den Hebel seiner Maschine umlegt, rauscht er in das Jahr A.D. 802 701.  Dort trifft er in sonnenbeschienener Landschaft auf kindliche Menschen in weißen Gewändern und in verzückter Stimmung, wenngleich naiv und gleichgültig gegenüber dem Fremden. Überhaupt ist die Welt viel wärmer als 1895, das Jahr, in dem der Roman erschien. Große Blumen und Früchte sorgen für ein paradiesisches Leben. Unser Zeitreisender erklärt sich das als Endpunkt des menschlichen Fortschritts, an dem Krankheit, Mangel und Kämpfe obsolet geworden seien.

Aber sobald die Sonne untergeht, werden die Wesen furchtsam, in mondlosen Nächten sogar panisch. Dem Zeitreisenden waren schon hohe Schornsteine und tiefe Schächte aufgefallen, die offensichtlich in ein Tunnelsystem führten. Dort hinabgestiegen entdeckt er buchstäblich lichtscheue Kreaturen. Auch für diese Erscheinung schafft sich der Zeitreisende eine vorläufige Erklärung. Schließlich gab es schon zu seiner Zeit Untergrundbahnen und viele Menschen in Bergbau und Industrie sahen tagelang kein Sonnenlicht. Erst später dentdeckt er die volle Wahrheit: die Kreaturen aus dem Untergrund jagen in dunklen Nächten jene leichtgläubigen Wesen der Oberwelt, von denen sie sich ernähren.

Schornsteine und ein tiefes Loch: Kraftwerk Buschhaus und der einstige Braunkohletagebau bei Schöningen (Niedersachsen)

Für einen Moment stellen wir uns vor, der Zeitreisende hätte den Hebel in die Gegenrichtung gestellt. Als die Maschine zum Stehen kommt, zeigen die Ziffern dann vielleicht 302 801 v. Chr. Der Zeitreisende wäre hier im Mittelpleistozän in einer Warmzeit angekommen und wäre auf eine Gruppe jagender affenartiger Kreaturen getroffen. Mit Speeren bewaffnet hätten sie ihre Beute zusammengetrieben und mit dem Wurfgeschoss tödlich getroffen. Die Gruppe hätte sich sicher bei der Jagd abgestimmt, etwa wer die Tiere in einen sumpfigen Teich treibt, so dass sie mit einem Wurfspeer zu erledigen waren. Zeichen einer erstaunlichen sozialen und technischen Kompetenz vor mehr als dreihundert Jahrtausenden.

Eine solche Zeitreise erlaubt das Forschungsmuseum Schöningen im östlichen Niedersachsen. Am Rande eines Braunkohletagebaus wurden hier 1995 Tierknochen und Wurfspeere entdeckt, deren Alter auf rund 300.000 Jahre bestimmt wurde. Die Speere sind damit die ältesten bislang gefundenen Jagdwaffen. Jene frühzeitlichen Jäger gehörten zur Gattung homo heidelbergiensis, die später von den Neanderthalern abgelöst wurden. Die Speere von Schöningen sind eine Weltsensation und das futuristische Museum trägt diesem Zustand Rechnung. Es dokumentiert die Ausgrabungen, die Auswertung der Funde und führt den Besucher direkt in das Mittlere Pleistozän.

Zwar verlief die Entwicklung des homo sapiens – also unsere – getrennt von der jener Jäger in Schöningen, aber sie zeigt, dass die Evolution des Menschen viele Verzweigungen hatte. Vor allem aber, dass das Buch unserer Entwicklungsgeschichte noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.

H.G. Wells‘ Zeitreisender begann seine Reise in die Zukunft im Jahr 1895, der Autor selbst erlebte noch die Atombomben über Japan (Wells starb 1946). Wäre der Zeitreisende aus The Time Machine zufällig beim Testlauf seines Gerätes  im November des Jahres 2020 gelandet, so wäre ihm vielleicht der leere Parkplatz aufgefallen, das Museum geschlossen und keine Menschenseele weit und breit. In Schöningen hätte er vielleicht den einen oder anderen mit Smartphone bewaffneten Bewohner unseres Zeitalters vorgefunden. Mit Maske und auf das Display des Kästchens in der Hand starrend hätte er sie für die Eloi gehalten: immer abgelenkt und nur wenig von der Umgebung wahrnehmend. Fragt sich nur: Wo haben sich die Morlocks versteckt?

Informationen:

Schöninger Speere bei Wikipedia

Webseite des Forschungsmuseums in Schöningen