
Wenn besonders begabte Menschen die Gegenbilder zu ihrer inneren Natur in der äußeren Realität suchen und zu einem ganzheitlichen Wissen vereinen, schreibt sinngemäß im Jahr 1805 kein geringerer als Goethe, so bildeten sich daraus auch für die Nachwelt höchst erfreuliche Erkenntnisse heraus. „Unser Winckelmann war von dieser Art. In ihn hatte die Natur gelegt, was den Mann macht und ziert.“
Der Geburtsort eines solchen Menschen, der eine ganz Epoche beeinflusste, ist Stendal in der Altmark. Hier kam am 9. Dezember 1717 Johann Joachim Winckelmann als Sohn eines Schuhmachermeisters zur Welt. Ein Museum in seiner Geburtsstadt dokumentiert Leben und Werdegang Winckelmanns bis zum tragischen Tod 1768.
In seiner Aufsatzsammlung „Winckelmann und sein Jahrhundert“ schreibt Goethe: „Eine niedrige Kindheit, unzulänglicher Unterricht in der Jugend, zerrissene, zerstreute Studien im Jünglingsalter, der Druck eines Schulamtes, und was in einer solchen Laufbahn Ängstliches und Beschwerliches erfahren wird, hatte er mit vielen andern geduldet. Er war 30 Jahr alt geworden, ohne irgendeine Gunst des Schicksals genossen zu haben; aber in ihm selbst lagen die Keime eines wünschenswerten und möglichen Glücks. … Wir finden schon in diesen seinen traurigen Zeiten die Spur jener Forderung, sich von den Zuständen der Welt mit eigenen Augen zu überzeugen, zwar dunkel und verworren, doch entschieden genug ausgesprochen. … Geleitet von seinem Genius, ergriff er endlich die Idee, sich nach Rom durchzudrängen. Er fühlte, wie sehr ihm ein solcher Aufenthalt gemäß sei. Dies war kein Einfall, kein Gedanke mehr, es war ein entschiedener Plan, dem er mit Klugheit und Festigkeit entgegenging.“
Winckelmanns Weg aus der Altmark über eine Position als Bibliothekar in Dresden (ab 1748) in die Stadt am Tiber (ab 1755) öffnete ihm und später den Zeitgenossen in Deutschland den Blick auf etwas revolutionär Neues: Die sinnliche und unmittelbare Erfahrung von Schönheit in der antiken Kunst. Bis dahin war die Antike allenfalls literarische Kategorie. Winckelmann entdeckte eine absolute Vollkommenheit in den antiken Skulpturen, die er in Rom vorfand und die für ihn den Höhepunkt aller Kunst darstellten. Der Autor Peter Watson geht noch weiter: „Winckelmanns Leistung war es, die Schönheit ernst zu nehmen als Mittelpunkt unseres Daseins, nicht als bloße Verzierung,“ schreibt Watson in „The German Genius. Europe’s Third Renaissance, The Second Scientific Revolution and the Twentieth Century” (2010). In der Freiheit der Großstadt konnte er aber auch seine innere Natur ausleben. Er suchte und fand Freundschaften zu Jünglingen und Männern. Aus diesen innigen Freundschaften, so sieht es Goethe, gewann er seine Schaffenskraft.

Winckelmanns Blick auf die antike Kunst lässt sich am Beispiel der Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen illustrieren. In seinem 1756 in Dresden erschienen Werk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst schreibt er:
„Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubet; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebet kein schreckliches Geschrei, wie Vergil von seinem Laokoon singet: Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen…Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilet, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, …: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können. Der Ausdruck einer so großen Seele gehet weit über die Bildung der schönen Natur: Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägete. Griechenland hatte Künstler und Weltweisen in einer Person… . Die Weisheit reichte der Kunst die Hand, und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.“ Zitat aus: Goethezeitportal online
Eine solche Sicht war revolutionär neu. Mehr noch, so Goethe: „Für diese Schönheit war Winckelmann, seiner Natur nach, fähig, er ward sie in den Schriften der Alten zuerst gewahr; aber sie kam ihm aus den Werken der bildenden Kunst persönlich entgegen, aus denen wir sie erst kennenlernen, um sie an den Gebilden der lebendigen Natur gewahr zu werden und zu schätzen. Finden nun beide Bedürfnisse der Freundschaft und der Schönheit zugleich an einem Gegenstande Nahrung, so scheint das Glück und die Dankbarkeit des Menschen über alle Grenzen hinauszusteigen, und alles, was er besitzt, mag er so gern als schwache Zeugnisse seiner Anhänglichkeit und seiner Verehrung hingeben. So finden wir Winckelmann oft in Verhältnis mit schönen Jünglingen, und niemals erscheint er belebter und liebenswürdiger als in solchen oft nur flüchtigen Augenblicken.“
Solche Beziehungen, schreibt Goethe weiter, zu denen „die leidenschaftliche Erfüllung liebevoller Pflichten, die Wonne der Unzertrennlichkeit, die Hingebung eines für den andern, die ausgesprochene Bestimmung für das ganze Leben, die notwendige Begleitung in den Tod“ gehöre, möge uns in Erstaunen setzen. Aber „Zu einer Freundschaft dieser Art fühlte Winckelmann sich geboren, derselben nicht allein sich fähig, sondern auch im höchsten Grade bedürftig; er empfand sein eigenes Selbst nur unter der Form der Freundschaft“. In seiner unnachahmlichen Art würdigt Goethe hier Winckelmanns Homosexualität als den Schlüssel zu jenem völlig neuen Blick auf die Schönheit klassischer Kunstwerke. Da war der große Dichter seiner Zeit voraus.
Mit seinen Publikationen wird Winckelman Begründer von Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin. Und mit seinem Engagement für die Ausgrabungen in Pompeii und Herkulaneum ruft er auch die Klassische Archäologie ins Leben.
Griechische Kunst, so schreibt Peter Watson weiter, war für Winkelmann das komplette Gegenteil von barocker Opulenz, von Hedonismus und Zügellosigkeit des Rokoko, welche er und die sich heraus bildenden deutsche Mittelschicht mit aristokratischer Dekadenz und der höfischen Kultur in Frankreich verbanden. Winckelmann setzte ein Zeichen für eine ganze Generation von Dichtern und Denkern des goldenen Zeitalters und half ihnen … die Erneuerung deutscher Kultur und Institutionen zu erreichen. In den hundert Jahren nach seinem Tod wurde der Rückbezug auf die klassische Antike in Kunst und Architektur zum „Geist der Zeit“. Und diese Spuren in der Architektur des 19. Jahrhunderts zeigen sich bis heute.
Wer das Parthenon auf der Akropolis in Athen umrundet oder das Museum in Olympia durchstreift, der taucht nicht nur in die attische Geschichte ein. Bis in unsere Zeit finden wir überall auf der Welt Bauten, deren Architekten von der klassischen Kultur (Greek revival) beeinflusst waren. Ein Sohn der Stadt Stendal hat dies bewirkt, ohne es vorhersehen zu können.
Erläuterungen: (1) Wörlitzer Schloss: Der Bau wurde 1773 vollendet. Er gilt als Gründungsbau des deutschen Klassizismus. (2) Charleston: das U.S. Customs House wurde von Ammi B. Young entworfen und zwischen 1859 bis 1879 gebaut. (3) Der Phra Thinang Warophat Piman Pavillion im Somerpalast der Thai-Könige nördlich von Bangkok. 1876 fertiggestelltes neo-klassizistisches Gebäude, welches für Zeremonien und Staatsempfänge genutzt wird. (4) Die Victoria Memorial Hall ist eine zwischen 1902 und 1905 erbaute Konzerthalle. (5) Die Basilika geht auf einen Entwurf im klassizistischen Stil von Laurynas Gucevičius zurück und wurde 1801 fertiggestellt. (6) Als Sitz des indischen Vizekönigs wurde das einstige Government House 1803 gebaut und sollte mit seinem neoclassischen Stil ein Statement britischer Macht in Südasien sein.
Das Winckelmann-Museum in Stendal ermöglicht es, das Leben des aus armen Verhältnissen stammenden Jungen bis zu seinem Lebensende nachzuvollziehen. Ein Rundgang beginnt mit diesem tragischen Ende und führt durch die Stationen der Schulzeit über Dresden nach Rom.
Tod in Triest
Winckelmanns Schriften erreichten die Intellektuellen und Kunstexperten seiner Zeit in ganz Europa. Mit Lessing stand Winckelmann über die Interpretation der Laokoon-Gruppe im Briefwechsel, die Höfe in Deutschland und Frankreich wollten jenen Mann sehen, der inzwischen Direktor aller Altertümer in Rom geworden war. Im April 1768 plante Winckelmann eine ausgedehnte Reise nach Deutschland, u.a. nach Dessau, Dresden, Berlin, Braunschweig und Göttingen. Aber schon in Regensburg machte eine Krankheit seine Pläne zunichte. Er reiste noch nach Wien, wo ihn Kaiserin Maria Theresia empfing, von dort aber direkt zurück nach Italien. Hier ereilte ihn im Frühsommer 1768 der Tod. In einem Hotel in Triest fiel Johann Joachim Winckelmann dem Raubmord seines Zimmernachbarn zum Opfer. Er starb an seinen Verletzungen am 8. Juni 1768, wenige Stunden nach der Tat.
Goethe fasst diesen Verlust für die Geisteswelt so zusammen: „So war er denn auf der höchsten Stufe des Glücks, daß er sich nur hätte wünschen dürfen, der Welt verschwunden. Ihn erwartete sein Vaterland, ihm streckten seine Freunde die Arme entgegen, alle Äußerungen der Liebe, deren er so sehr bedurfte, alle Zeugnisse der öffentlichen Achtung, auf die er so viel Wert legte, warteten seiner Erscheinung, um ihn zu überhäufen. Und in diesem Sinne dürfen wir ihn wohl glücklich preisen, daß er von dem Gipfel des menschlichen Daseins zu den Seligen emporgestiegen, daß ein kurzer Schrecken, ein schneller Schmerz ihn von den Lebendigen hinweggenommen. Die Gebrechen des Alters, die Abnahme der Geisteskräfte hat er nicht empfunden, die Zerstreuung der Kunstschätze, die er, obgleich in einem andern Sinne, vorausgesagt, ist nicht vor seinen Augen geschehen, er hat als Mann gelebt und ist als ein vollständiger Mann von hinnen gegangen. Nun genießt er im Andenken der Nachwelt den Vorteil, als ein ewig Tüchtiger und Kräftiger zu erscheinen: denn in der Gestalt, wie der Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten, und so bleibt uns Achill als ewig strebender Jüngling gegenwärtig. Daß Winckelmann früh hinwegschied, kommt auch uns zugute. Von seinem Grabe her stärkt uns der Anhauch seiner Kraft und erregt in uns den lebhaftesten Drang, das, was er begonnen, mit Eifer und Liebe fort- und immer fortzusetzen“.
Besuch in Stendal vor dem Lock-down im November 2020
Am letzten Wochenende geöffneter Museen fuhren wir nach Stendal, einst sogar Hansestadt. Am Marktplatz steht der Roland, jene Figur, welche mittelalterliche Handelsplätze schützen sollte.

Im Gewölbe des Kaffeekult spürt man das späte Mittelalter bei Kuchen und ausgewählten Kaffeesorten. Winckelmann hätte das wohl geliebt, auch wenn die Enge einer Kleinstadt ihm niemals jenen Zugang zu den Erkenntnissen und zu einem Lebensstil ermöglichte, den er in Rom gewinnen konnte. Seine Begabung, dies in seinen Schriften den Zeitgenossen zugänglich zu machen, prägte eine Epoche, eben „sein Jahrhundert“. Erst 60 Jahre nach seinem Tod hat man ihm in Triest ein Grabmal errichtet, das der Bedeutung seines Lebenswerkes gerecht wurde.
Mordakte Winckelmann. DIE WELT online, 7.6.2018
Webseite des Winckelmann-Instituts, Humboldt Universität zu Berlin