Im Januar 2020 drohte der US-Präsident damit, wichtige Monumente von Irans kulturellem Erbe zu zerstören, sollten US-Truppen im Nachbarland oder im Persischen Golf angegriffen werden. Vor einigen Tagen hat der Staatspräsident der Türkei den Status der Hagia Sophia in Istanbul aufgehoben und sie dem Ministerium für Religiöse Angelegenheiten unterstellt. Dies wurde möglich, weil ein Gericht die Entscheidung von 1935 rückgängig machte, mit der die seit 1453 genutzte Moschee in ein Museum umgewandelt worden war. Jetzt kann das Bauwerk aus dem Jahr 537 wieder als Gebetshaus genutzt werden. Webcam Hagia Sophia (Earthcam Network)

Zwei Beispiele aus allerjüngster Vergangenheit, die zeigen, dass das kulturelle Erbe der Menschheit keinen Status-quo kennt, sondern immer wieder neu kontextualisiert wird. Und dies, obwohl die Vereinten Nationen vor fast 50 Jahren konsensfähige und transparente Kriterien festlegten, die solche Heritage Sites klar definieren.
Deren Organisation für Wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit (nach ihrer englischen Abkürzung: UNESCO) hat seit 1972 solche wichtige Stätten des Natur- und Kulturerbes der Menschheit unter besonderen Schutz gestellt. Diese Stätten sollen vor Krieg und mutwilliger Zerstörung geschützt werden, weil sie zum Erbe der gesamten Menschheit und nicht nur eines Staates gehören. Bis heute haben 197 Staaten die entsprechende Konvention unterzeichnet und ratifiziert, so etwa Afghanistan (1979) oder die Türkei (1983). Die geschützten Stätten sind auf der Welterbe-Liste zusammengestellt, die jährlich ergänzt wird. Derzeit enthält die Liste 1121 Stätten in 167 Ländern. Zudem sind UNESCO-Welterbe-Stätten Touristenmagnete und werden daher gern mit diesem Status beworben.
Besonders gefährdet sind die Stätten unserer Kultur in Mesopotamien und der Levante. Der Bürgerkrieg in Syrien und der Krieg gegen den Islamischen Staat haben Orte der Sumerer, Assyrer und Babylonier beschädigt oder ganz (und willkürlich) zerstört. Und als Menetekel galt im Frühjahr 2001 die Sprengung der Buddhas von Bamyan in Afghanistan (die der Schreiber dieser Zeilen im September 1977 besuchen konnte).
Im Jahr 2010 feierten drei Welterbestätten auf drei (Sub-)Kontinenten ihr 1000-jähriges Bestehen: der große Chola-Tempel in Thanjavur (Südindien), die Altstadt von Hanoi (Vietnam) und St. Michael in Hildesheim.
Selten wurde der universalistische und globale Anspruchs eines Erbes für alle Menschen und Kulturen so eindrucksvoll sichtbar, wie an dieser Gleichzeitigkeit. Womit wir wieder bei der Kirche zur „Heiligen Weisheit“ in Istanbul wären. Als Schnittpunkt der Kulturen zwischen Orient und Okzident liegen auf dem Territorium der Türkei 18 Stätten des UNESCO-Welterbes (von Ephesus im Westen bis Göbekli Tepe im Osten) – und es könnten gut und gerne mehr sein. Die Altstadt von Istanbul mit der Hagia Sophia ist sozusagen das architektonische Kronjuwel.
Zwar ist der Status als Weltkulturerbe von der Entscheidung des türkischen Präsidenten nicht unmittelbar betroffen – es sei denn, bauliche Änderungen oder stark begrenzter Zugang für die Öffentlichkeit wären geplant. Dies, so wird versichert, ist nicht beabsichtigt. Aber ein politisches Signal ist es ganz sicher. Dabei steht die Hagia Sophia nicht alleine: Auch der große Chola-Tempel in Thanjavur im südindischen Tamil Nadu wurde wieder in ein für religiöse Rituale genutztes Heiligtum umgewandelt.
Grundsätzlich ist dies kein Widerspruch zum Anspruch, ein kulturelles Erbe der gesamten Menschheit zu sein. Schließlich werden die vielen Welterbe-Kirchen in Europa weiterhin für Gottesdienste genutzt. Sie sind außerhalb dieser begrenzten Zeiten für Besucher aus aller Welt zugänglich.
Die Hagia Sophia ist ist ein fast 1500 Jahre altes Wunderwerk der Architektur, welches auch heute noch Superlative aufstellt. Die Metropole Istanbul und die Türkei als Ganzes können sich glücklich schätzen, ein solches Bauwerk zu beherbergen. Man kann den Verantwortlichen für das Gottes- und Gebetshaus nur wünschen, dass sie in ihren Entscheidungen jene Weisheit beherzigen, welche Kaiser Justinian einst seinem Bauwerk gewidmet hat.
Weitere Informationen:
Webseite der UNESCO mit der aktuelle Liste der Welterbestätten
Hagia Sophia bei Wikipedia (Deutsch)
Nachrichten zur Hagia Sophia auf tagesschau.de
Stealing from the Saracenes. The Guardian online, 13 August 2020