Ohn(e)macht

Diesmal sind wir nicht im Kino. Auf der Leinwand läuft kein Katastrophenfilm ab, sondern wir selbst sind mittendrin. Wir sind die Handelnden, die Opfer, die Helden, die Gejagten. Über uns herein brechen immer neue Nachrichten, Statistiken, Anweisungen, Regelungen. Wir machen einen großen Bogen umeinander, halten Abstand im Supermarkt und waschen uns die Hände, weil wir etwas berühren, das ein anderer schon berührt hat.

Ein Virus befällt die Menschheit, buchstäblich und nicht nur wie so oft metaphorisch. Auf einer Seite im Internet werden minütlich die Zahl der Infizierten weltweit, die an der Krankheit Verstorbenen und die Wiedergenesenen dargestellt – nach Ländern und Territorien, in einem feurigen Farbton, der den Anschein einer Apokalypse noch verstärkt. Orangene Punkte auf dunkelblauem Grund wachsen überall und verschmelzen, je nach Kartenmaßstab, zu unheilvollen Flächen.

Quelle: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6

Im Fernsehen beobachten wir ein Lazarettschiff vor der Kulisse der New Yorker Freiheitsstatue, Pfleger/innen und Ärzte/innen in Schutzkleidung, Menschen mit Masken auf der Straße und in Supermärkten.

Darstellung an einem alten holländischen Friedhof in Südindien

In Italien mahnen uns die Bilder von aufgereihten Särgen an den Tod, der mit dem Virus reist. Diesmal kommt er nicht von Bomben aus der Luft, wie tagtäglich in Syrien, von Scharfschützen oder Scharfrichtern wie im Irak oder von Selbstmordattentätern auf Märkten in Afghanistan. Der Tod in unserem realen Film kommt heimtückisch. Unbemerkt beschleicht er unsere Atemwege und schädigt unsere Lungen. Flüssigkeit bildet sich dort. Wen der Tod auswählt, der ertrinkt.

Wir sind schutzlos dem mikroskopischen Winzling ausgeliefert, Präsidenten und Prinzen, Premierminister und Partykönige gleichermaßen. Er überträgt sich, wenn wir uns am nächsten sind: bei der Familienfeier, bei der Begrüßung im Meeting, beim gemeinsamen Sport oder beim Zuschauen auf den Rängen. Nicht der Wind trägt das Virus um die Welt, sondern wir selbst. Von der Karnevalsfeier, von der Party nach dem Skilaufen oder beim gemeinsamen Gebet und Gottesdienst nehmen wir es mit.

Unsere Ohnmacht ist grenzenlos. Regierungen und Armeen versagen, wenn der Feind sich in ein Pflegeheim für Demenzkranke schleicht und dort die aller Schwächsten hinrafft. Wenn jener Feind

Wanderarbeiter in Indien zwingt, sich Hals über Kopf nach Hause zu begeben, weil sie nicht mehr gebraucht oder gar als Gefahr gesehen werden. Wenn sie dann in Gluthitze ohne Nahrung und Wasser entlang der Autobahnen über 100 km wandern müssen, weil der Busverkehr eingestellt wurde, dann ist nicht nur unsere Ohnmacht grenzenlos, sondern sogar unsere Wut.

Aber wir teilen die Ohnmacht auch derer, bei denen das Virus auf Kreuzfahrtschiffen zunächst unerkannt mitreist und dann die Passagiere mitten in einem traumhaften Urlaub zu Aussätzigen werden lässt, die kein Hafen mehr aufnehmen will. Wenn es Menschen auf tropischen Inseln oder auf Trekkingtouren im Hochgebirge den Rückweg nach Hause abschneidet, weil Grenzen dicht gemacht werden und Flüge entfallen. Alles wie in einem Drehbuch zum Film, der gar keiner ist.

Gnadenlos mächtig sind wir aber gegen uns selbst, wenn wir uns schützen wollen. Restaurants, Therapiepraxen, Kneipen oder Friseurläden, Kinos und Spielplätze werden geschlossen. Der Raum, wo wir uns treffen – Plätze, Fußgängerzonen, Schwimmbäder, Sporthallen – wird zur Gefahrenzone. Wir werden uns alle zur Gefahr: Kinder werden von Großeltern ferngehalten, ins Haus verbannt müssen Eltern für Spiel, Lernen und Abwechslung sorgen.

Ohnmächtig sehen wir mit an, wie Existenzen gefährdet oder vernichtet werden. Wir denken an die vielen Selbstständigen und Kleinunternehmer bei uns, die mit viel Einsatz und Mut und Investitionen ihre Praxis, ihr Cafe, ihren Laden oder ihr Hotel aufgebaut haben. Für sie ist Homeoffice keine Alternative, nicht für die Piloten, deren Flugzeuge am Boden bleiben, nicht für die Handwerker oder Lastwagen- und Auslieferungsfahrer. Ohnmächtig müssen wir erleben, dass Schulpläne, Prüfungen und Semesterabschlüsse über den Haufen geworfen werden. Eine junge Generation mag vom Virus weniger verwundbar sein, seine Folgen aber trägt diese auch.

Helden in dieser „Reality Show“ (wenn es denn eine wäre) sind aber nicht diejenigen mit Superwaffen und übernatürlichen Kräften, sondern Pfleger, Ärzte, Krankenhausangestellte, Ambulanzfahrer, Betreuer in Altenheimen. Zu ihnen gehören auch die Angestellten in Supermärkten, an den Kassen und Fleischtheken, die es ermöglichen, dass wir uns versorgen können. Ihnen möchten wir Beifall klatschen, mehr wäre ihnen geholfen, wenn wir sie besser bezahlen.

Es naht Ostern. Und mit dem Fest auch der Frühling, mit Ostereiern als Symbol des neuerwachenden Lebens. Dieses Fest müssen wir jetzt ohnmächtig in Isolation feiern. Wem es hilft, wird beten.

In unserer Ohnmacht bleibt uns das Vertrauen auf die Wissenschaft. Epidemielogen und Virologen beschäftigen sich mit Modellen zur Verbreitung von Viren und dem Verlauf von Pandemien. Wissen ist hier buchstäblich Macht. Sie sind dem Winzling in unseren Körpern auf der Spur, sie entwickeln Gegenmittel. Mit Vertrauen auf die Wissenschaft – und nicht auf Fakenews und inkompetentes Geplapper in „Press Briefings“ – können wir dem Gefühl der Ohnmacht Herr werden. Das tröstet im Moment nur die Wenigsten, die sich einer existentiellen Krise ausgesetzt sehen und die Angehörige verlieren, die sie nicht ordentlich begraben konnten. Aber vielleicht müssen wir alle lernen, mit unserer Ohnmacht umzugehen. Was wir nicht verlernen sollten, ist mitzufühlen und mitzuhelfen.

Weitere Informationen:

Wanderarbeiter in Indien. Sueddeutsche.de, 31.3.2020 

Ausgangssperre in Indien. ZEIT online, 31.3.2020 

Kommentare:

Georg Mascolo in Sueddeutsche.de 4.4.2020 

Interview Achim Steiner (UNDP). Zeit online, 7.4.2020

Timeline der Corona-Pandemie. Aljazeera.com 27.4.2020

The Gandhis, Mandelas and Kings of Today. The Hindu online, 12.6.2020