Der Mann sitzt auf einer Grabplatte. Skeptisch schaut er auf die Besucher. Sein Kumpel hat zuvor ein Tor aufgeschlossen, welches uns den Zugang zu dem alten Friedhof in Pulicat ermöglicht, einem kleinen Fischerhafen an der indischen Ostküste. Zwei Skelette, ein Totenkopf und eine Inschrift in Latein und Niederländisch sind im Torbogen eingemeißelt.

Wir betreten an diesem versteckten Platz, rund 100 km nördlich von Madras, dem heutigen Chennai, einen niederländischen Friedhof aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Große Grabplatten und Grabhäuser wie Miniaturpaläste füllen das ummauerte Geviert. Gras wächst zwischen den Gräbern.
Die Inschriften auf den Grabplatten sind leicht zu identifizieren, zwei Beispiele unten: Die mit zwei Jahren verstorbene Tochter Elisabeth von Gouverneur Laurens Pit (links) und das Grab von einem Jaques Caulier (rechts), gleichfalls Gouverneur und Chef aller Besitzungen an der „Kuste Koromandel“, der mit 59 Jahren vor Pulicat starb.
Der schaurige Friedhof nahe der kleinen Bushaltestelle des Ortes ist die augenscheinlichste Spur von Aktivitäten der Niederländer in diesem Teil Indiens. Pulicat, zusammen mit Cochin, Galle und Malacca, bildete eine Kette von Forts und Handelsstützpunkte in Südasien, welche die VOC, die Vereinigte Ostindische Compagnie der Niederlande, mit Waren für den europäischen Markt versorgen sollten. Jede Station war ein „Profitcenter“. Mit der Expansion auf den Gewürzinseln Indonesiens wurde das 1619 gegründete Batavia (heute Jakarta) zum zentralem Umschlag- und Verwaltungsplatz der Niederländer.
In diese Ära fällt auch der Beginn des Sklavenhandels. Im Jahr der Gründung von Jakarta landete das erste Schiff mit Sklaven in Virginia. Auch von Indien wurden Menschen als Ware exportiert. Ein niederländischer Historiker hat ermittelt, dass zwischen 1621 und 1665 131 Schiffe mit zusammen 38.441 Sklaven aus Indien in Batavia ankamen, die meisten wurden über Pulicat verschifft.
Im Gegensatz zum Sklavenhandel über den Atlantik ist der über den Indischen Ozean weit weniger bekannt. Dieser besonders tragische Aspekt der Kolonialgeschichte Indiens ist wenig erforscht und wird in Indien selbst weitgehend ausgeblendet. Viel bedeutender für die nationale Identitätsstiftung ist der spätere Unabhängigkeitskampf gegen die Briten.
Neben dem Friedhof gibt es heute keine baulichen Spuren mehr in Pulicat. Immerhin ist das einstige Fort Geldria in Google Maps noch in Umrissen zu erkennen, Bastionen und Gräben verborgen unter Gebüsch und Dschungel. Die Gräber auf dem „Dutch Cemetery“ geben Zeugnis von Europäern und ihrem Schicksal in der Ferne. Sie verschweigen aber, dass viele von denen, die hier in Pulicat begraben liegen, Zeugen eines brutalen Menschenhandels waren.
Die Reliefs der Skelette, der Totenkopf im Torbogen und die Zitate aus der biblischen „Apocalypse“ lassen darauf schließen, dass auch jenen Zeitgenossen Zweifel kamen, ob „die Arbeit“, von der sie sich im Tode ausruhen konnten, tatsächlich Wille ihres Gottes sein konnte.
Weitere Informationen:
„Pulicat. The forgotten Indian slave trade“ livehistoryindia.com
Exhibition: The Story of Dutch Slave Trade. THE GUARDIAN online, 10 December 2020