
Es ist um das Jahr 528 vor Christus. Der 35-jährige Siddhartha Gautama, Sohn aus gehobener Gesellschaftsschicht und auf der Suche nach einem Leben befreit von Last und Leid, wandert von Bodh Gaya nach Isipatana, dem heutigen Sarnath. Seine Heimat ist das Königreich Maghada in der mittleren Ganges-Ebene, mit der Hauptstadt Rajgir. Reisanbau und Handel haben eine sozial differenzierte Gesellschaft geformt, in der jedem ein fester Platz zugeteilt ist. Alle sind in einem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt gefangen. In Bodh Gaya war Siddhartha unter einem Baum eingeschlafen. Als er aufwachte, lag die Lösung zu seinen Fragen wie ein fertiges Buch vor ihm, ein Mittelweg zwischen extremer Askese und hedonistischen Versuchungen, ein Weg der inneren Befreiung.
In einem Wäldchen bei Sarnath trifft er fünf frühere Begleiter wieder. Sie hatten ihn zuvor aus Enttäuschung verlassen, als er seine radikale Askese aufgab. Ihnen predigt er zum ersten Mal die Vier Edlen Wahrheiten, in denen er das Wesen des Leidens und dessen Überwindung darlegt. Kondanna, Bhadddiya, Vappa, Mahanama und Assaji sind beindruckt und werden zu den ersten fünf Jüngern Gautamas, der jetzt den Beinamen Buddha (der Erleuchtete) erhält. In kurzer Zeit wächst die Zahl seiner Anhänger in Sarnath stark an und so wird der Ort nahe der heiligen Stadt Varanasi in Nordindien zum Geburtsort des Buddhismus.

Im heutigen Sarnath sind nur noch Mauerreste jener über 2500 Jahre alten Geschichte erhalten. Überragend dabei ist buchstäblich der Dhamekh Stupa. Er stammt aus dem 11. Jahrhundert, seine Fundamente gehen aber in die Zeit der Maurya-Kaiser aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert zurück. Deren wichtigster, Ashoka (268 – 232 v. Chr.), eroberte ein Reich, dessen Territorium von Afghanistan bis zum heutigen Bangladesh reichte. Er gilt als erster gesamtindischer Herrscher und konvertierte nach einer besonders brutalen Eroberung des Königreiches Kalinga (heute Orissa/Odisha) zum Buddhismus.

Ashoka einte sein Reich nicht nur über die Verbreitung der neuen Lehre des Erleuchteten, sondern auch mit einer Gesetzgebung, die er auf Stelen und Säulen einmeiseln ließ. Sie finden sich heute an vielen Stellen des Subkontinents wieder. Die Kapitelle dieser Säulen schmückten vier Löwen. Sie sind heute das offizielle Staatswappen Indiens und auf allen amtlichen Schreiben abgebildet, auch auf der indischen Währung. Das Löwenkapitell der Ashoka-Säule aus Sarnath ist dazu die „Urvorlage“. Es steht im Archäologischen Museum, welches zudem zahlreiche zeitgenössische Darstellungen des Buddhas enthält.
Sarnath ist Pilgerziel für viele Buddhisten aus Süd- und Südostasien. Sie umschreiten den Stupa und bestreuen den Weg mit Blüten. Die Bedeutung von Sarnath für den Buddhismus ist auch erhalten geblieben, als der Hindusimus in den frühen Jahrhunderten unserer Zeitrechnung eine Renaissance erlebte und die Buddhisten in Indien zu einer kleinen Minderheit wurden (heute sind nur etwa 5 % aller Bürger Indiens Buddhisten). Sarnath aber überlebte auch die Zeit der islamischen Herrschaft und der Moghulkaiser in Indien.
Mit dem Maurya-Kaiser Ashoka war die Lehre Buddhas einige Jahrzehnte lang Staatsreligion, eine nicht unerhebliche Parallele zum frühen Christentum: Wie mit Kaiser Konstantins Sieg an der Milvischen Brücke das Kreuz Herrschaftssymbol wurde, so erhielt mit dem Sieg über Kalinga das Rad mit den acht Speichen, welche die „Acht Edlen Pfade“ des Buddhas zur inneren Befreiung darstellen, den Charakter eines Staatssymbols. Es ist noch heute Bestandteil der indischen Staatsflagge.
Sarnath ist damit nicht nur für Buddhisten ein besonderer religiöser Ort. Es ist auch für das unabhängige Indien ein Ort der Identifikation. Daran sollte man heute, am 15. August, dem Tag der indischen Unabhängigkeit von 1947 und heutigem Nationalfeiertag, einmal erinnern.
Historisch-politischer Kontext
Als Jahr 1 des buddhistischen Kalenders zählt das Jahr 543 v. Chr. Nordindien war damals ein Konglomerat von Kleinstaaten. Zur Zeit von Siddharthas Wirken in Sarnath hatte Dareius I. gerade begonnen, das persische Großreich im Osten bis zum Indus und später auch im Westen Richtung Kleinasien zu erweitern (die „Perserkriege“ aus unserem Geschichtsunterricht sollten erst noch folgen). Im Nahen Osten hatte schon sein Vater, Kyros I. mit der Eroberung Babyloniens die Landkarte neu ausgerichtet. Die in Babylon gefangenen Juden konnten nach Jerusalem zurück kehren und den salomonischen Tempel wiederaufbauen (ab 517 v. Chr.), den die „Chaldäer“ 70 Jahre zuvor zerstört hatten. Hier im persischen Hochland lebte – einigen Historikern nach – zur gleichen Zeit Zarathustra (559 – 522 v. Chr.). Auch Zarathustra definierte den Sinn menschlicher Existenz als die permanente Suche nach Wahrheit und ethischen Werten, die aus freiem Willen geschieht. Er prägt damit Staatsreligion und Philosophie im Perserreich.
Hätte es damals E-Mail gegeben, Siddhartha Gautama hätte mit Konfuzius (551 – 479 v. Chr.) in China korrespondieren können. Beide stammten aus ähnlichen sozialen Verhältnissen, beiden lebten in kleinstaatlich zersplitterten Regionen und beide setzten sich mit Reformen von Gesellschaft und Individuum auseinander. Seine „konfuzianische“ Lehre entwickelte der chinesische Philosoph aber erst später im Leben, aus seinen Erfahrungen im Staatsdienst.
Im Abendland, in Athen zum Beispiel, gab es in der Vorstufe zur späteren attischen Demokratie einen Rückschlag, als Peisistratos eine Tyrannei errichtete – er starb etwa, als der Buddha in Sarnath seine erste Predigt hielt. Und in Mitteleuropa waren es noch die Kelten (vor den späteren germanischen Stämmen), die sich in der Kunst der Eisengießerei übten („Eisenzeit“). Mein Heimat, das Siegerland, war das Zentrum von „Eisenverhüttung“, damals mit kleinen Lehmöfen und Holzkohle-Befeuerung aus den Mischwäldern der Mittelgebirge. Während also in der Ursprungsregion des späteren globalen Imperialismus mit Eisen experimentiert wurde, entwickelten sich in den Gesellschaften und Territorien Asiens Philosophien, die sie bis heute prägen. Vermutlich aber haben weder Siddartha noch Zarathustra oder Konfuzius das geahnt.
Weiterführende Links:
Webseite des Archäologischen Museums von Sarnath
Zu Sarnath bei Wikipedia (engl.)
Nepa/India War of Words over Buddha’s origin. THE HINDU online, 11 ugust 2020