
Kein Kanu oder Kajak – zu den Wasserfällen von Hogenakkal in Südindien lässt man sich im kreisrunden Schilfkorb „rudern“. Nur Millimeter einer dünnen Folie samt Teerschicht trennen von den tosenden Wassern der Kaveri (Cauvery)– und wie sich später herausstellt von hungrigen Krokodilen, überall im Mittellauf des wichtigsten südindischen Flusses.
In Tamil bedeutet Hogenakkal „rauchende Felsen“. Der kleine Ort liegt rund 190 km südlich der IT-Metropole Bengaluru (Bangalore) im ausgedehnten Waldgebiet des südlichen Dekhan-Plateaus. Hier, an der Grenze der Bundesstaaten Karnataka und Tamil Nadu, stürzt sich die Kaveri in einer Serie von Wasserfällen über die Kliffs des Dekhan-Hochlandes und beginnt dann eine weit weniger dramatische Reise: zunächst gestaut vom Mettur-Damm, bis sie schließlich nach Osten abbiegt und in einem ausgedehnten Delta den Golf von Bengalen erreicht – wenn dann noch Wasser übrig ist. Denn neben den Staustufen in Karnataka bedient das Wasser der Kaverie die gesamte Landwirtschaft im zentralen Tamil Nadu. Kein Wunder, dass der Fluss „die (Göttin) Ganga von Südindien“ genannt wird – Lebensspenderin im Sinne des Wortes.
Ich nahm vormittags von Bengaluru einen Bus. Man erreicht Hogenakkal über die Nationalstraße 7 bis nach Dharmapuri. Von dort sind es knapp 50 Straßenkilometer nach Westen, die ich per Taxi zurück legte.
Später nachmittags mache ich mich zu den Badestellen unterhalb der Hauptfälle auf. Essenstände und Badetreppen sind über kleine Brücken und betonierte Pfaden verbunden. Überall sitzen Familien zusammen und picknicken. Manche wagen sich mit Hilfe von Seilbrücken in die wirbelnden Wassermassen, ein Bad, das Heilung und Nähe zu den Göttern verspricht. Junge Männer barfuß und in Lunghis tragen riesige Körbe auf dem Rücken, wie Schildkröten auf zwei Beinen wirken sie.
„Sir, you want boating? Only 100 Rupees“ – einer wirft in einem ruhigen Seitenarm zwischen den Felsen seinen Korb aufs Wasser. „Come“ lädt er mit einer Handbewegung ein: Ich soll einfach in den runden Korb steigen, er rudere mich zu den Wasserfällen. Klingt unkompliziert.
Man stelle sich vor, man sitze in einem Badezuber und soll die Nordsee überqueren – wie zum Teufel bin ich in diesen Korb geraten? Mein Bootsführer (ein anderer Begriff fällt mir nicht ein) paddelt in der Hocke das aus Rattan geflochtene und mit Folie und Teer abgedichtete Wassergefährt in wilden Bewegungen gegen den Strom – immer Richtung Hauptfall. Ich selbst liege bewegungsunfähig auf dem Rücken und spüre jeden Stromwirbel im Steiß. Ich kann ihn im tosenden Wasser überzeugen, dass ich einen guten Eindruck gewonnen hätte und es jetzt vorziehen würde, in ruhigeren Zonen zu schwimmen. Aber ich habe 100 Rupien bezahlt und jetzt muss ich für 100 Rupien durchhalten.
Immerhin, er dreht um und lässt uns mit der Strömung treiben, bis der Fluss ruhiger wird. Eine Flussinsel will er noch umrunden, dann zurück zum Ausgangspunkt. Hier treffen wir einen anderen Schwimmkorb als grazil ausbalancierten „floating shop“ mit Softdrinks und Gebäck. Vor uns ein Korb ähnlicher Größer wie meiner, aber mit acht Wagemutigen besetzt, die relaxed im Kreis liegen und abwechselnd lachen. Einige telefonieren mit ihren Handys. Ich gebe zu bedenken, dass sich der Himmel Besorgnis erregend dunkel färbt, mein Bootsführer winkt ab. Es kam wie es kommen musste: Kurz vor dem Ziel brechen sich die Wassermassen Bahn, diesmal nicht von den Fällen, sondern aus den Wolken über uns.
Mehr um Kamera, Bargeld und Reisepass besorgt als um mein Leben, presse ich meinen Rucksack gegen mich. Irgendwie findet mein Guide Halt an einem Felsen, ich kraxele aus dem Korb und er holt ihn aus dem Wasser und zieht ihn wie einen Panzer über sich. Wir verabschieden uns mit Handzeichen, jetzt ist jeder für sich. Im Monsunregen den Felshang hoch gelingt es mir einen Unterschlupf zu finden, triefend nass, aber bei 34 Grad ist das erträglich. Wie durch ein Wunder funktioniert die Kamera noch und der Reisepass ist trocken.
Am nächsten Morgen besuche ich das „Crocodiles Rehabilitation Center“ – auch eine staatliche Einrichtung. Hier genießen Dutzende Krokodile ein sorgenfreies Leben, hinter Mauern immerhin, aber an schönen Badebecken. Ab und an werden die Tiere wieder in die Kaveri entlassen, ihrem Lebensraum – jenem Strom, den ich tags zuvor lebend verlassen habe. (Zuerst veröffentlicht unter reinersjournal.wordpress.com im September 2012; modifiziert und um die Beschreibung des Hotels Tamil Nadu gekürzt, am 18. Mai 2021. )