Satellitenschwarm über North Sentinel

Quelle: ISRO

Als am 22. November 2018 eine Interkontinentalrakete mit Dutzenden von Satelliten vom Satish Dawan Space Center auf der Halbinsel Sriharikota an der Ostküste Indiens abhob, ließ die Weltraumfracht an Bord der 44 m langen PLSV-Rakete (Polar Satellite Lauch Vehicle) nach wenigen Minuten Flug über den Golf von Bengalen die North Sentinel-Insel in der Gruppe der Andamanen, östlich der Flugroute gelegen, hinter sich.

Quelle: https://www.quora.com/Whats-the-flight-path-of-a-typical-low-Earth-orbit-rocket-launch

Auf North Sentinel leben noch etwa rund 100 Menschen vom Stamm der Sentinelesen. Sie sind neben den Jarawas auf der benachbarten Great Andaman-Insel Nachfahren der erste Migrationswelle der Menschheit, die von Afrika aus vor rund 100.000 bis 60.000 Jahren entlang des Indischen Ozeans Richtung Südostasien und Australien zogen. Die Sentinelesen auf der zu Indien gehörenden Inselgruppe der Andamanen lehnen jeden Kontakt mit der Außenwelt ab. Sie jagen mit Pfeil und Bogen und leben buchstäblich noch unter den Bedingungen, als sie Afrika verließen.

Fähren verbinden die Inseln der Andamanen

Am 17. November, nur wenige Tage vor dem Start der Rakete von Sriharikota, tötete der Stamm einen jungen Amerikaner, der sich trotz strengem Verbot mit einem Fischerboot auf die Insel westlich der Andamanen-Hauptstadt Port Blair hatte bringen lassen, um die Sentinelesen zum Christentum zu bekehren. Abgesehen von der neokolonialen Ideologie eines jungen Mannes, der sich wohl ein do-it-yourself-Weltbild zauberte und per Instagram Held spielen wollte, warnen Ethnologen und Anthropologen vor jedem Kontakt gegen den Willen der andamanischen Ureinwohner. Gerade die Isolation hat sie vor dem Aussterben gerettet. Andere Urvölker auf unserem Planeten sind durch Krankheiten, die ihre Eroberer und Bekehrer einschleppten, dezimiert worden. Ikonisch für den Widerstand der Andamanenvölker gegen Eindringlinge ist ein Foto von 2004, als ein Sentinelese einen Hubschrauber der indischen Armee, der die Insel nach dem Tsunami im Indischen Ozean überflog, mit Pfeil und Bogen beschoss.

Steinzeit und Raumfahrt sind zwei Facetten einer einzigartigen Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart auf dem Territorium der Indischen Union. Die Diskussion, ob man die isolierten Völker an die Errungenschaften der Jetztzeit heran führen sollte, ist neu aufgeflammt. Ihnen dies vorzuenthalten, sei paternalistisch, sagen die einen. Sie zu einem anderen Leben zu zwingen, welches sie möglicherweise nicht einmal überleben, sei kolonialistisch, sagen die anderen. Sind die Urvölker der Andamen also ein lebender Zoo, ein Studienobjekt für Ethnologen, oder sind sie nicht doch  Beispiel für selbst gewählte Autonomie und Isolation (garantiert auch durch den Schutz der indischen Behörden)? Auf North Sentinel ist diese Frage geklärt, auch weil die Insel von der Hauptgruppe isoliert ist und der Zugang leicht kontrolliert werden kann. Der junge Amerikaner im November 2018 hat sich in einem selbst inszenierten Missionseifer über diesen Status hinweg gesetzt und mit seinem Leben bezahlt. Vermutlich wird nicht einmal sein Leichnam von der Insel geborgen werden.

Für andere Andamanenvölker ist die Frage nicht so eindeutig zu beantworten. Das liegt auch an der Inselgeographie: Der Stamm der Jarawas, ebenfalls zu steinzeitlichen Bedingungen lebend, hat sein Territorium in der Mitte der lang gestreckten großen Andamaneninsel. Um sie für Neusiedler (und zunehmend Touristen) zu erschließen, wurde eine Verbindungsstraße der Länge nach über die Insel gebaut. Jene Andaman Trunk Road streift den Lebensraum der Jarawas an mehreren Stellen. Die Regierung in Port Blair (und in Delhi) hat versucht, zwischen den ökonomischen Bedürfnissen der Neusiedler auf den Andamanen und dem Schutz der Eingeborenen zu vermitteln. Für die Trunk Road gibt es streng Richtlinien, auf die alle Besucher hingewiesen werden.

 

Dennoch haben Aktivisten gegen die Andaman Trunk Rod geklagt und eingefordert, dass der Transport in der Inselgruppe über Fähren abgewickelt wird. Der Supreme Court in Delhi hat ihnen Recht gegeben, aber die Macht des Faktischen vor Ort hat bislang nicht zur Umsetzung des Urteils geführt. Im Gegenteil: die Jarawas werden tatsächlich wie im Zoo beäugt, nur nicht von seriösen Forschern, sondern von (überwiegend indischen) Touristen. Vor zehn Jahren (die Fotos hier stammen vom Herbst 2008), bei einer Jeepfahrt von Middle Andaman zurück nach Port Blair, fanden wir einige Jarawas an der Straße, die um Geschenke bettelten und von Touristen fotografiert wurden.

Das Schicksal der Jarawas, die ebenfalls in selbst gewählter Isolation bleiben, wenngleich einige den Verlockung der „Zivilisation“ nicht widerstehen können, ist ungewiss. Immerhin ermöglichen die sporadischen Kontakte vielleicht einen graduellen Übergang von der Steinzeit ins heute. Aber wie so oft spiegelt dies eher die Hoffnung des Chronisten wieder, die Wirklichkeit hat ihre eigene Dynamik. Die Interkontinentalrakete konnten die Sentilesen und Jarawas nicht sehen, aber Jets im Anflug auf den Flughafen von Port Blair fliegen notgedrungen tief über den Lebensraum der Steinzeitmenschen. Man möchte gern wissen, ob sie dies als Zeugen einer anderen Zeit wahrnehmen oder als unheimliche Boten, die ihr Leben bedrohen.

Weitere Informationen:

Webseite der ISRO, Indian Space Research Organization

North Sentinel-Insel bei Wikipedia

Sentinelesen bei Wikipedia

Tod auf North Sentinel, N-TV online, 25.11.2018 

Sentinelse tribe…, THE GUARDIAN online, 30. November 2018 

Mein Blogpost zur Andaman Trunk Road

The Hindu online, 19 December 2020