Eine Vertreterin vom Förderverein Buchenwald begrüßt uns vor einem Lageplan des einstigen Konzentrationslagers. Sie leitet ehrenamtlich öffentliche Führungen durch das, was von einem Ort des zehntausendfachen Mordes in der Nazizeit und danach übrig geblieben ist. An jenem Spätsommertag im September 2018 sind wir eine Gruppe von zufällig zusammen gekommenen Besuchern aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten. Wir tragen Turnschuhe oder Baseball-Kappen, T-Shirts oder Shorts. Scheinbar ein Sonntagsausflug wie viele andere.

Hier an den Kasernengebäuden der SS-Bewacher, umgeben von Buchen und Eichen, erfahren wir zunächst Fakten zu Funktion, Ausmaß und Geschichte des Lagers. Zahlen wie insgesamt 56.000 Ermordete und Hingerichtete klingen jetzt noch seltsam abstrakt. Wir gehen an der Baracke der Lagerleitung entlang Richtung Eingangstor. Direkt am Hochspannungszaun des Lagers gab es einen Zoo für die „Angestellten“ und deren Familien. Es sind solche Banalitäten eines Alltages in Sichtweite der Lagerbaracken, die unsere Fassungslosigkeit steigen lassen. Im Gebäudeteil rechts vom Haupttor versammeln wir uns um ein großes Modell des Lagers. Unsere Betreuerin erklärt die einzelnen Funktionen von Gebäuden und Zonen im und um das Lager herum (Wohnhäuser der Lagerleitung, Pferdestall für die Gattin des ersten Lagerleiters Koch, eine kleine Farm innerhalb der Umzäunung, die Zufahrt über die „Blutstraße“, der Carachow-Weg, das Krematorium).
Wir gehen durch das schmiedeeiserne Gitter des Tores auf das fast leere Gelände. „Jedem das Seine“ steht in kaum zu steigerbarem Zynismus im Torgitter. Die Baracken sind heute verschwunden und vor uns liegt eine mit Kies bedeckte Fläche, der man nicht ansieht, dass hier zeitweise rund 40.000 Menschen eingepfercht waren. Morde, Hinrichtungen oder Weitertransporte in Vernichtungslager gaben immer wieder Raum für neue Häftlingsladungen. Vor dem Bau einer Zubringerbahn mussten die Häftlinge vom Bahnhof Weimar aus auf den Ettersberg marschieren.
Wir halten inne an einer metallenen Gedenkplatte im Kiesboden. Sie ist immer auf 37 Grad beheizt, die Körpertemperatur von uns Lebenden. Um sie zu erfühlen, muss der Besucher sich bücken. Er verneigt sich damit zugleich vor den Opfern aus Dutzenden von Ländern aller Erdteile. Die 37 Grad sind aber auch eine Verpflichtung, die Erinnerung am Leben zu halten, erläutert unsere Betreuerin.
Der Blick geht von hier über die leere Fläche, die nur vom Wald begrenzt wird. Gerade dies zwingt, sich das Grauen in und zwischen den Baracken irgendwie vorzustellen. Wir gehen auf die andere Seite des Lagergeländes, wo das Krematorium erhalten ist. Hier ist der Tod so präsent, dass es die Kehle zuschnürt. Ein Vorraum („Pathologie“), in dem den Toten Verwertbares entnommen wird, dann ein kleiner Raum, heute mit Gedenktafeln an einzelne Ermordete, und schließlich die Batterie von Öfen, die eine Erfurter Spezialfirma lieferte. Im Keller des Gebäudes wurden die Leichen gesammelt und per Aufzug nach oben in die Verbrennungsanlage befördert. Zuvor waren die Gefangenen in der „Genickschussanlage“ unter Vortäuschung einer medizinischen Untersuchung erschossen worden. Technisch und logistisch perfektionierter Tötungsablauf „im Namen des deutschen Volkes“, Menschen geschlachtet von freiwilligen „Mitarbeitern“ durchgeführt im Schichtbetrieb.
Buchenwald, wie auch Sachsenhausen, Dachau oder Bergen-Belsen und viele weitere Orte sind Stätten des Naziterrors auf dem Territorium der Bundesrepublik. Sie sind real, sie sind leicht erreichbar und somit bleibende Zeugen und mit Nichten „ein Fliegendreck“ in der deutschen Geschichte. Eher sind sie immer noch offene Wunden.
Buchenwald, im geographischen Herzen der neuen Bundesrepublik gelegen, ist auch deshalb so verstörend, weil es auf Wanderdistanz zum Zentrum der deutschen Klassik und des Humanismus in Weimar liegt. Wer heute die Zeugnisse davon im Schillerhaus oder am Frauenplan und in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek besichtigt, sollte nicht vergessen, dass nur 150 Jahre später auf dem nahen Ettersberg unvorstellbares Grauen „im Namen des deutschen Volkes“ stattfand. Ob die Gruppe junger NPD-Aktivisten, die wir auf der Fahrt nach Thüringen am Straßenrand in Mansfeld sahen und die gegen „Sozialbetrug“ demonstrierten, daran denkt?
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