Wetzlar ist nicht unbedingt der Ort, an dem man einen Schlüssel zur deutschen Literaturgeschichte vermuten würde. Im Gegenteil, die kleine Stadt an der Lahn ist leicht zu übersehen: Wer von Gießen auf der B 49 durchs Lahntal unterwegs ist, wird kurz vor der Stadt auf eine Hochstraße geführt, von der er nur ein gesichtsloses Einkaufszentrum oder vormoderne Bürogebäude mit der Aufschrift „Buderus“ oder „Leica“ sieht. Auch das vergilbte Schild „Historische Altstadt“ an der Straßenüberführung lädt nicht zum Ausfahren ein.
Aber wäre Wetzlar nicht von 1690 bis 1806 Standort des Reichskammergerichts gewesen, zuständig für all die rechtlichen Streitigkeiten in den Fürstentümern des Reiches, wäre im Mai 1772 nicht ein 23-jähriger Praktikant in die Lahnstadt gekommen, dessen Vater Wert auf eine gute juristische Ausbildung legte. Im Spielfilm von 2010 stellt er sich zackig vor: „Göthe, mit oe.“ In Wetzlar trifft der ungestüme und vom Justizbusiness unterforderte Johann-Wolfgang einen Studienfreund aus Leipzig wieder, der im Film sein bester Kumpel wird: Karl Wilhelm Jerusalem. Was in den vier Monaten bis Goethes Abreise im September in Wetzlar und Umgebung geschieht, hat der junge Dichteraspirant zwei Jahre später in einem Briefroman buchstäblich auf Papier geworfen. Die im September 1774 erschienenen „Leiden des jungen Werther“ wurden ein Welterfolg und zeichneten den Weg Goethes als d e n Dichter der deutschen Klassik vor.
Wer heute in die Altstadt von Wetzlar vordringt, findet ein hübsches Städtchen vor, mit verwinkelten Gassen von der Lahn hoch zum Dom. Man fühlt sich fast in die Zeit des jungen Gerichtspraktikanten von 1772 zurück versetzt. Wertherstraße, Lottestraße, Kestnerstraße, die Namen bewegen Freunde der deutschen Klassik.
Goethe legte Wert darauf, dass die „Leiden“ ein Roman sind, wenngleich mit Dichtung und Wahrheit ineinander verwoben. Der junge Werther schreibt eine Serie von Briefen zwischen Mai 1771 und Ende 1772 an seinen Freund Wilhelm, die einzelnen Briefe sind datiert und beginnen im Mai 1771. Aber Werthers Reflexionen über die Natur, die Menschen in seiner Wetzlarer Umgebung, am meisten aber seine leidenschaftlichen Gefühle für eine schon vergebene junge Frau, all das hat der junge Goethe in sechs Wochen niedergeschrieben. Seine Fähigkeit zu poetischen Eulogien, seine Wortmächtigkeit zwischen Weltschmerz und himmelhohem Jauchzen spiegeln nicht nur „Sturm und Drang“ wieder, sondern vor allem die unglaubliche Dichtkunst des jungen Mannes. Der Roman endet mit dem Selbstmord des an sich selbst verzweifelnden Werthers. Goethe verarbeitet hier den Tod seines Freundes Jerusalem, der im Oktober 1772 in Wetzlar seinem Leben wegen einer verschmähten Liebe mit einem Pistolenschuss ein Ende setzte. Im „Werther“ verschmelzen die Wetzlarer Tage der beiden Freunde zu einem tragischen Finale.
Auf Spurensuche im Frühsommer 2018 in Wetzlar. Und Spuren gibt es eine ganze Menge, denn die meisten Handlungsorte aus dem „Werther“ sind real: Lottehaus, Jerusalemhaus, Reichskammergerichtsmuseum (alle in der Altstadt), Wahlheim/Garbenheim wenige Kilometer Osten und sogar Volpertshausen, einige Kilometer südlich von Wetzlar. Aber lassen wir den Dichter bzw. den jungen Werther dazu sprechen, die Zitate sind aus einem online-Projekt („Leiden des jungen Werther“, online-Projekt von DER SPIEGEL) entnommen.
4. Mai 1771
… Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. … Den 17. Mai. … Wenn du fragst, wie die Leute hier sind, muß ich dir sagen: wie überall! Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen! …
Am 10. Mai
…. Das ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. – Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Orts; das hat alles so was Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sitze. ….
Am 26. Mai
…… Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man auf einmal das ganze Tal.
Hätt‘ ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge wählte, daß es so nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche einschließt, auf meinen weiten Wanderungen, bald vom Berge, bald von der Ebne über den Fluß gesehn!
Wahlheim heute
Vor einigen Jahren hat die Stadt Wetzlar einen Goethewanderweg eingerichtet, der den Spuren des Dichters nach Wahlheim folgt. Er beginnt am Goethebrunnen in Wetzlar und führt dann über den Höhenzug südlich der Lahn, von dem man herrliche Blicke über Wiesen, Felder und Wälder Mittelhessens hat, steil hinunter nach Garbenheim. Letzteres ist nichts anderes als Goethes Wahlheim. Der heutige Ort hat nur im Kern noch einige Fachwerkhäuser, am Goetheplatz („bedeutender Dichter„) nahe der Kirche steht ein Denkmal aus dem 19. Jahrhundert. Eine Bronzeskulptur des Dichters sitzt auf jener Bank, auf der Goethe so gern über das Dorfleben und seine Lotte sinnierte.
An Walhheim erinnert am deutlichsten die „Wahlheim Schänke“, Vereinshaus des TSV Garbenheim. Schwarz-rot-gold dominiert jetzt während der Fußball-WM 2018. Ein Koch mit Brille schaut aus einer Ecke auf die Gäste, und die Speisekarte ist voller deftiger Fleischgerichte.
Am 17. Mai
…. Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den fürstlichen Amtmann, einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine Seelenfreude sein, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun hat; besonders macht man viel Wesens von seiner ältesten Tochter. Er hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er wohnt auf einem fürstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier, wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause zu weh tat. …
Am 16. Junius
Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem kleinen Königreiche zu besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre vielleicht nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.
Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte. – »Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen«, sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren. – »Nehmen Sie sich in acht«, versetzte die Base, »daß Sie sich nicht verlieben!« – »Wieso?« sagte ich. – »Sie ist schon vergeben«, antwortete jene, »an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben«. – Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.
Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen, dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.
Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein »danke!«, indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte.

…

Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause stille hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren, daß ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
…
Wir schlangen uns in Menuetts um einander herum; ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir’s war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du fühlen. Tanzen muß man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände; und in dem Augenblicke gewiß schwindet alles andere vor ihr.
Am 21. Junius
Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, über die Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder über den inneren Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben, in dem Gleise der Gewohnheit so hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu bekümmern.
Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal schaute, wie es mich rings umher anzog. – dort das Wäldchen! – ach könntest du dich in seine Schatten mischen! – dort die Spitze des Berges! – ach könntest du von da die weite Gegend überschauen! – die in einander geketteten Hügel und vertraulichen Täler! – o könnte ich mich in ihnen verlieren! – ich eilte hin, und kehrte zurück, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft! Ein großes dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! Unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen, großen, herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen. – und ach! Wenn wir hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt nach entschlüpftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.
Tod Werthers /Selbstmord Jerusalems im Haus am heutigen Schillerplatz 5 in Wetzlar
„Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe wohl!“
Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen; da aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf. Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er faßt ihn an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig vor Alberten nieder.
Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluß eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem. Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste.
Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker; man erwartete sein Ende. Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. »Emilia Galotti« lag auf dem Pulte aufgeschlagen.
Webseiten zu Werther und Goethe in Wetzlar:
Museum Reichskammergericht Wetzlar
„Wahlheim“/Garbenheim bei Wetzlar
Auf_Werthers_Spuren_in_Wetzlar