Potsdam: Fritzbox mit Blattgold

Potsdam liegt „vor“ Berlin und ist von dort meist nur ein Zusatzausflug. Wir widmeten der Hauptstadt Brandenburgs ein ganzes Wochenende und waren überrascht über die restaurierte preußische Pracht, aber auch über ziemlich viel Fake-Architektur.

Eine evangelische Kirche, die dem Petersdom nachempfunden ist, eine Moschee, die ein Pumpwerk ist, und ein Lustschloss nach französischem Vorbild: „Alles nur nachgemacht!“ meinte Janni, unser Guide auf einer dreistündigen Busodysee durch die Stadt an der Havel am vergangenen Samstag. Die Hohenzollern hätten Stile kopiert, wie es ihnen gerade gefallen habe: russische Landhäuser und Kirchen, Schlösser im englischen Tudorstil, Villen und Palais nach italienischer Art und barocke Parks wie in Frankreich. Willkommen also in Potsdam!

Im gleißenden Sonnenlicht eines Aprilwochenendes und offenen Verdeck starten wir am Hauptbahnhof. Wir überqueren die Freundschaftsinsel über die Lange Brücke, fahren am ehemaligen Stadtschloss vorbei (jetzt der Landtag von Brandenburg), dann am Filmmuseum (einst der Pferdestall der preußischen Könige, aber „Marstall“ klingt schöner) und erreichen die Breite Straße. Sie ist B1 und B2 zugleich, Potsdam damit einst ein wichtiges Straßenkreuz zwischen Ost und West, Nord und Süd. Gut restaurierte klassizistische Fassaden gehen über in einen sanierten DDR-Stil. In einer Baulücke und hinter einem Bauzaun stehen Kräne, hier wird die Garnisonkirche wieder aufgebaut (Kulisse zum infamen „Tag von Potsdam“ im März 1933). Am Pumpwerk („Besucher aus dem Morgenland legen hier manchmal die Schuhe ab, weil sie beten wollen“, sagt unser Guide) biegen wir rechts ab Richtung Brandenburger Tor (komplett verschalt), fahren am Holländischen Viertel vorbei (hier wohnten einst tatsächlich Holländer, als Handwerker nach Potsdam geholt) Richtung Glienicker Brücke.

In der Berliner Vorstadt (so heißt die Gegend verschämt) häufen sich prächtige Villen und „exklusive Läden, wie Lidl und Aldi (letzteres mit Bootlandesteeg für Jachtbesitzer)“, wie sich Janni nicht verkneifen kann. Als der Bus nach Überquerung der Brücke zurück Richtung Stadt wendet, erzählt er, wie hier der Spielberg-Film „Bridge of Spies“ gedreht wurde und Tom Hanks in Kunstschnee den Agentenaustausch von 1962 bewältigte.

Überhaupt, Potsdam als Grenzstadt hinter dem Eisernen Vorhang (der hier durchs Havel-Wasser führte). Auch unsere nächste Station erinnerte daran: Schloss Cecilienhof. Sieht aus wie ein altes englisches „Landhaus“, ist aber erst vor hundert Jahren gebaut worden („das jüngste Schloss in Europa“).

Einige Schornsteine sind fake, nicht aber die Konferenz, die hier im Sommer 1945 stattfand und die Aufteilung Deutschlands und Europas unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs endgültig besiegelte. „Gehen Sie ums Gebäude herum, wo das berühmte Foto mit den Dreien – Stalin, Truman und Churchill in Korbsesseln – entstand“, empfiehlt Janni. Wir verlassen diesen geschichtsträchtigen und zugleich gepflegten Ort, fahren an der ehemaligen Haftanstalt der Sowjets vorbei (heute Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße) durch die weitläufige Grünanlage der russischen Dorfkolonie Alexandrowka und erreichen an der historischen Mühle den Park von Sanssouci.

Alles wie von der Postkarte bekannt: das barocke Schlossgebäude, die im April noch kahlen Weinbergterrassen, und die Grabplatte für den „Großen“ Friedrich (unter der allerdings seine Gruft liegt). Immer wieder legen Fans Kartoffeln auf das Grab, eingedenk seiner Förderung des Kartoffelanbaus in Preußen. Bei aller Pracht der Hohnenzollernresidenzen in Potsdam, Berlin und Preußen, die unprätentiöse Grabplatte und die Ehrung mit Kartoffeln haben mich am meisten beeindruckt.

Wenn es preußische Tugenden gab, jenseits von autoritärem Führungsstil und Militarismus, dann die von Klugheit, künstlerischer Feinsinnigkeit, Offenheit gegenüber neuen Ideen, Toleranz gegenüber Andersgläubigen sowie ein gewisses Maß sozialer Fürsorge (wenngleich immer noch „Untertanen“) geprägten Tugenden des Preußenkönigs im 18. Jahrhundert. Das Ringen mit seiner Persönlichkeit macht Friedrich II. von Preußen vielleicht sogar zu einem Vorreiter der modernen Gleichberechtigung. Der junge Hohehzollernfürst ging hier durch die brutalst mögliche Anpassung, erzwungen von seinem Vater und der höfischen Gesellschaft seiner Zeit. Beim Spaziergang über die Treppenaufgänge ging mir durch den Kopf, dass der „Alte Fritz“ eigentlich ein jung gebliebener Friedrich ist, dessen aufklärerischer Geist manchem Populisten heute gut zu Gesicht stünde. Man kann nur wünschen, dass die heutige Berliner Republik die fortschrittlichen Seiten Preußens weiter trägt (und es nicht beim Preußischen Präsentiermarsch für Staatsgäste belässt), aber die Zeichen dafür stehen gut.

Wir fahren weiter über die Maulbeerallee zum Neuen Palais, oder – wie es unser Guide Janni formuliert – zum Universitäts-Insititut der „ewig Gestrigen“ (der Geschichtsstudenten) und der „künftigen Taxifahrer“ (dem Institut für Philosophie), beides Fächer, die unser junger Begleiter im Hauptberuf studiert – und die ihn so sympathisch machen. Man wünschte sich, dass mehr junge Menschen den Mut zum Studium solcher angeblich brotloser Fächer hätten. Investmentbanker und Immobilienmakler haben wir genug (und von denen haben wir genug). Die Universität Potsdam ist in den Bauten des Neuen Palais beheimatet – der Geist preußischer Aufklärung mag durch die Hörsäle wehen. Insgesamt hat sich Potsdam zu einer Forschungsstadt entwickelt (u.a auch das PIK, das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung) und ist stolz darauf.

Wir machen am Tag darauf eine Schiffsrundfahrt („Schlössertour“) über die Havel und sehen jede Menge Palais, Pavillons und Schlösser zwischen den noch blatt- und blütenlosen Bäumen. Potsdam wirkt an einigen Uferstellen wie eine Stadt im Tessin.

Aber als die Sonne an jenem Samstag untergeht und die Figuren auf Kirchen und an Schlossfassaden golden schimmern, die großen und kleinen Plätze sich leeren, Baukräne das letzte Sonnenlicht einfangen und sich eine multikulturelle Stadtgesellschaft an den Karussells am Lustgarten erfreut, gehen die Gedanken zurück an die vielen Gesichter Preußens, an das unselig-autoritäre Kaiserreich, die liberale Weimarer Republik, die unterging im Faschismus, an die DDR-Version des Nachkriegsdeutschlands, die sich allzu gern in preußischer Tradition sah (dem gegenüber stand die Bonner Republik, für die Preußen allenfalls als Prinzengarde im Karneval auftauchte) und schließlich das Deutschland seit 1989, in dem alle jene Brüche seiner Geschichte enthalten sind. Nirgendwo sonst steht das so eng nebeneinander wie in Potsdam.