Im Bild oben: Die Grenze zwischen Indien und Nepal verläuft über den Gipfel des Kanchenjunga (8586 m).
Die mächtigste Gebirgskette der Erde trennt die zwei bevölkerungsreichsten Staaten auf dem Planeten. Mit zusammen fast 3 Milliarden Menschen repräsentieren Indien und China gut 40 % der Weltbevölkerung. Schon deshalb sind die Beziehungen zwischen beiden von globaler Bedeutung.
Aber an ihrer gemeinsamen Grenze über den gesamten Verlauf des Himalayas hinweg stehen sich ganze Divisionen gegenüber: von Aksai Chin im Osten Ladakhs über das Chumbi-Tal östlich von Sikkim bis nach Arunachal Pradesh. Damit wird der Himalaya zum höchst gelegenen „Aufmarschgebiet“ auf dem Globus. Dass mitten in dem Gebirgsriegel Nepal und Bhutan als quasi Puffer liegen, macht die geopolitische Lage nicht leichter. Die beiden Himalayastaaten haben bislang einigermaßen erfolgreich zwischen den beiden Supermächten laviert. Und in Kaschmir ist die Lage noch komplizierter, da es im Übergang von Himalaya zum Hindukusch zusätzlich ungeklärte Grenzansprüche zwischen Indien und Pakistan gibt.
Der jüngste Disput zwischen China und Indien (im Sommer 2017) entstand um das Doklam Plateau, ein zu Bhutan gehörendes Territorium, über welches China eine Straße ins südliche Chumbi Valley bauen wollte. Indien, als Repräsentant Bhutans, fühlte sich provoziert. Indien und China könnten von solchen Infrastrukturprojekten profitieren, da der Handel zwischen beiden ausbaubar ist. Und schon mit dem im Sommer 2006 wieder eröffneten Nathu La (la = Pass) verbanden sich große Hoffnungen in der Region. Aber immer wieder wechseln positive Signale (etwa politische Kontakte in den Hauptstädten) mit scheinbar aus dem Nichts entstehenden Provokationen. Das Misstrauen zwischen beiden Ländern sitzt enorm tief.
Wie kommt es, dass zwei asiatische Supermächte derart konfliktreiche Grenzproblem haben? Die Antwort liegt in der kolonialen Vergangenheit, vor der Herausbildung der heutigen politischen Territorien. Grenzabkommen der britischen Kolonialmacht in Delhi mit den Regierungen von Tibet oder dem vorkommunistischen China stellt die Volksrepublik in Frage – und begründet so etwa seinen Anspruch auf fast das komplette Gebiet des Bundesstaates Arunachal Pradesh. Hingegen beruft Indien sich meist genau auf Abkommen und Kartenwerke aus jener Zeit, als es selbst noch Kolonie der britischen Krone war (z.B. beim Verlauf der sogenannten McMahone Line im östlichen Himalaya). Für Indien war es eine Schockerfahrung, als China, Partner im Bund der blockfreien Staaten, 1962 Truppen in Richtung Brahmaputra schickte. Indiens Aufrüstung begründet sich aus diesem Ereignis. Schon der Blick auf einer Karte zum Nordosten des Subkontinents illustriert, wie fragil die Lage hier sein kann. Luftlinie liegt der Siliguri-Korridor, der die nordöstlichen Bundesstaaten mit „Mainland“ Indien verbindet, nur knapp 100 km vom Südzipfel des chinesischen Chumbi-Tals.
Was für ein Gewinn für beide Länder wäre es, wenn buddhistische Mönche aus Tibet oder dem Westen Chinas über die Pässe zu den Wirkungsorten Buddhas in Sarnath und Gaya pilgern könnten. Indische Pilger hingegen sollten ohne große Hürden zum für Hindus und Buddhisten gleichermaßen heiligen Mount Kailash im Westen Tibets reisen können. Vom grenzüberschreitenden Handel und dem Tourismus könnten alle profitieren.
Bis es soweit ist und die Gebietsansprüche im Einvernehmen geregelt sind, gilt es, den Atem anzuhalten. In Delhi und Beijing mehren sich nationalistische Tendenzen, die jedes Zugeständnis als Schwäche ansehen. Zudem verfügen beide asiatischen Mächte über Atomraketen, mit denen sie ihre Millionenstädte ausradieren könnten. So spielt sich Weltpolitik bis in die entlegensten Täler und Pässe des Himalaya ab.
Weitere Informationen:
Doklam-Krise, Spiegel online 27.7.2017
Ladakh-Krise, Deutsche Welle online 2013
Dalai Lama Visit to Tawang, CNN.com, 5.4.2017
Indisch-chinesischer Grenzkonflikt bei Wikipedia (in Englisch, weitgehend aus indischer Perspektive)
Zum indisch-chinesischen Verhältnis, THE HINDU online, 24. März 2018
Nach dem Wuhan-Treffen, THE HINDU online, 3. Mai 2018
Tension with China in Sikkim. The Hindu online, 20 May 2020
China-India Border Stand-off. Washington Post online, 28.5.2020
Shock and Anger in India. The Guardian online, 17 June 2020
Brawls at Natu La between Indian and Chinese soldiers. The Guardian online, 25 Jan. 2021