Singapur: Wandel als Staatsräson

Kürzlich führte der Stadtstaat Singapur wieder eine Hitliste an: Sein Pass ist das „wertvollste“ Reisedokument auf dem Globus: Singapurianer können in 159 Länder visumfrei reisen (Deutsche in 158). Auch sonst steht die Stadt am Südausgang der Straße von Malacca ziemlich oben: beim Pro-Kopf-Einkommen, in Pisa-Studien oder bei Gesundheitsfürsorge. Auch dem Reisenden, der über den Causeway vom malaysischen Johore Bahru auf die Insel gelangt, fällt die metikulöse Ordnung auf: sauber geteerte Straßen, städtisches Grün wie in einem gepflegten Park und Gebäude in makellosem Anstrich. Selbst Baustellen wirken in Singapur wie Schönheitsoperationen an einem schon perfekten Körper. Kein Wunder, dass Singapur als Duty Station bei Bankern und Businesschefs beliebt ist.

Es hat aber auch seinen Preis, und es hat seinen Grund. Zwei Namen seien hier genannt. Thomas Stamford Raffles und Lee Kuan Yew. Raffles war einer jener weitsichtigen Briten – um nicht zu sagen: britischer Imperialisten, welche die Topographie Südostasiens in der beginnenden imperialen Geopolitik glänzend verstanden. Angesichts der nach dem Wiener Kongress 1815 noch ungeklärten Fragen der Rückgabe kolonialen Besitzes in Niederländisch-Indien und der Malayischen Halbinsel erbat sich Raffles, kaum 38 Jahre alt, von seinen Vorgesetzten in Calcutta die Inbesitznahme (durch eine jährliche Pacht an den Sultan von Johore) der Insel Tumasik, die auch „Singapura“ genannt wurde, die Löwenstadt. Und amit erhielt Britannien im Januar 1819 einen Schlüssel zu den Seerouten zwischen Ost- und Südasien. Mit dem Tausch der Enklave Bencoolen auf Sumatra gegen Malacca (das rechtlich Niederländisch war) und zusammen mit Penang am Nordausgang der Malacca Straits besaßen die Briten drei sogenannte „Settlements“ an der Meeresstraße.

Der Aufstieg Singapurs war mit der beginnenden Industrialisierung, den Rohstoffen Südostasiens und dem Handel zwischen den großen Mächten Japan, Korea, China und Indien sozusagen programmiert. Dennoch verlief die Historie des Stadtstaates alles andere als gradlinig. Der spätere Staatschef Lee Kuan Yew hatte zunächst die Zukunft Singapurs in der Malaysischen Föderation gesehen. Damit aber war die chinesische Bevölkerung Singapurs in der Minderheit. Als eigenständiger Staat ab 1965 hingegen konnte Lee seine Vision eines Handels- und Dienstleistungszentrums an einem Schlüsselpunkt des Welthandels konsequent umsetzen (und dies durchaus autoritär). Singapur wurde zu einem der wohlhabendsten Staaten der Erde, die Insel buchstäblich umgestaltet.

Bei meinem Besuch  im Sommer 1979 hatte diese urbane Transformation gerade begonnen. Chinesische Shophouses wurden zeilenweise abgetragen, Kräne und Bagger allenthalben. Ich habe bei meinem kürzlichen Besuch an einigen Beispielen „Vorher/Nachher“-Situationen fotografiert. Besonders auffällig ist die Bencoolen Street. Sie ist erst in den vergangenen Jahren zur mit grün durchsetzten Stadtstraße geworden. 1979 war sie das Zentrum der Backpacker-Hotels. Unseres (siehe Foto) ist heute Teil eines mondänen Einrichtungshauses.

 

Das sind nur zufällige und wenige Beispiele eines ungeheuren Wandels, dem sich Singapur und seine Bürger ausgesetzt haben (oder worden sind). Im Nachhinein war die Politik Lee Kuan Yews erfolgreich. Sie erscheint heute als eine Blaupause „asiatischer (politischer) Werte“, bei denen Demokratie und Partizipation hinter ökonomischem Fortschritt und materiellem Wohlstand zurück stehen. Der Tigerstaat Singapur und seine chinesisch geprägte Gesellschaft nahmen damit vorweg, was Mainland China in den vergangenen zwei Jahrzehnten nachholte. Dabei wird – stadtplanerisch und politisch – „grob gehobelt“. Fragt man aber die betroffenen Bürger, so sehen die meisten dies als einen vertretbaren Preis. Die Regierungspartei Singapurs dominiert die Politik des Stadtstaates seit mehr als 50 Jahren unangefochten.

Die Diashow zeigt Bilder von 1979, am Singapore River und in seiner Nachbarschaft:

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Prestigeprojekte auf neu gewonnenem Land an der Mündung des Singapore Rivers heute:


Weitere Informationen:

Singapurs postkoloniale Architektur, THE GUARDIAN 3.1.2018 

„Singapore – reinventing itself“. Straits Times online 27 June 2019

Heritage Trails in Singapore. The Straits Times online, 7 December 2020